Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
wahrnehme, ist mein eigenes müdes Gesicht und das verschwommene Spiegelbild von Grahams marineblauem Hemd, das am Türgriff hängt.
»Sie wurde erdrosselt.«
»Von wem?«
Langes Schweigen. Ein Wolkenbruch geht nieder, das Schiff schaukelt, alles ist grau in grau. Ich drehe mich um und blicke ihn an. »Es fällt mir schwer, darüber zu reden.«
»Wo hat man sie gefunden?«
»Hinter der Rollschuhbahn, gegenüber der Kirche, der ihre Eltern angehörten.«
Als wir noch in der Junior High waren, verbrachten wir jedes Wochenende auf der Rollschuhbahn. Ich schließe meine Augen und höre das Surren der Rollen auf dem Boden, die schlitternden Gummistopper, jemand fällt hin, eine knochige Schiedsrichterin in hautengen Hosen führt das Tohuwabohu an. Ich erinnere mich an die purpur roten Pompons, die Amanda Ruth zum zwölften Geburts tag von ihrer Mutter geschenkt bekam und an den Schnür senkeln ihrer Rollschuhe befestigte. Die Rollschuhe hatten Glitzerpartikel in den Rollen. Ich sehe sie vor mir, wie sie über die glatte Lauffläche gleitet, die Hüften schwenkt und laut eine Melodie mitsingt, die über Lautsprecher erschallt, ein Lied von Earth Wind and Fire über einen hellen Stern, der uns den Weg zu einem erfüllten Leben weist. Sie setzt ein Bein vor das andere, schlank und geschmeidig und neigt sich zur Mitte der Rollschuhbahn. Die rotierende Diskokugel wirft tausende bunter Lichtreflexe auf den Boden, Sterne, denen sie folgt, leichtfüßig wie eine Tänzerin über die Lauffläche wirbelnd, mit wehendem braunem Pferdeschwanz.
So möchte ich sie in meiner Erinnerung behalten, doch immer wieder schiebt sich das andere Bild dazwischen: Amanda Ruth in Jeans und weißem T-Shirt auf dem Pflaster, in einer Position, die aussieht wie beim Figurenwerfen, aufs Geratewohl eingenommen, einen Arm weit ausgestreckt, das rechte Bein seltsam angewinkelt und den gelben Schal um den Hals geschlungen. Auf einem anderen Foto sah man eine schmale purpurfarbene Linie, nachdem die Polizei den Schal entfernt hatte, die zu geringfügig erschien, um ihren Tod verursacht zu haben. Drei Tage nach dem Fund der Leiche ließ der Detective, der die Ermittlungen leitete, die Fotos aus einem Manilau mschlag auf den Tisch gleiten. »Kommt Ihnen irgendetwas auf dem Bild bekannt vor?«
»Der Schal«, sagte ich.
Der Detective strich sich mit den Fingern über den Bart. »Woher hatte sie ihn?«
»Von mir.«
»Ein Geburtstagsgeschenk?«
»Nein, nur so.«
»Ein Geschenk ohne besonderen Anlass?«
»Ja.«
»Merkwürdig.«
»Sie war meine Freundin.«
»Was für eine Art Freundin?«
»Meine beste Freundin.«
»Gab es irgendetwas Ungewöhnliches an dieser Beziehung?«
»Was meinen Sie damit?« Ich war bereit, mein Scherflein zur Aufklärung des Falls beizutragen. Ich begriff nur nicht, worauf er mit seinen Fragen hinauswollte. Während er mir ein Foto nach dem anderen vorlegte, mich genau hinzuschauen nötigte und mir endlose Fragen stellte, die auch nicht mehr Klarheit zu bringen schienen, wurde mir bewusst, dass mich dieser Mann als Verdächtige betrachtete.
»Ich möchte wissen, ob es irgendetwas Ungewöhnliches an dieser Beziehung gab«, wiederholte er, dieses Mal mit mehr Nachdruck. Die Art, wie er das Wort ungewöhnlich aussprach, gab mir das Gefühl, der letzte Dreck zu sein. Das Wort hatte den üblen Beigeschmack von schäbigen Spelunken und dunklen Straßenecken, wo der Bodensatz der Gesellschaft Tauschgeschäfte abwickelt: schneller Sex gegen ein paar schweißgetränkte Geldscheine.
»Nein.«
Es entstand eine lange Pause. Er beugte sich über den Tisch, sein Gesicht so nahe an meinem, dass ich seinen Atem auf meinem Mund spürte. Er roch nach Zigaretten und Pfefferminzbonbons und nach den Bohnen-Burritos von Taco Bell. »Amanda Ruths Vater sah das anders, oder?«
Ich zuckte die Achseln. Der Detective stand auf und ging im Raum auf und ab, wie ein Polizist aus irgendeinem Kaff in den regionalen Fernsehserien. »Mr. Lee hat uns erzählt, dass Sie etwas mit seiner Tochter hatten. Sagen Sie, sind Sie lesbisch?«
Inzwischen zitterte ich am ganzen Körper, war in Tränen aufgelöst. Er trat hinter mich, legte die Hände rechts und links neben mir auf den Tisch, so dass ich von seiner massigen Gestalt, von seinem Fastfood-Atem umfangen war. Sein Gesicht direkt an meinem, flüsterte er mir ins Ohr: »Treibst du es mit Mädchen?«
»Nein!«
Sofort bedauerte ich meine Reaktion, doch sie ließ sich nicht mehr ungeschehen machen. Dieses
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