Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
sollte, versuchte der Fährmann sie zu schänden. Um ihre Ehre zu bewahren, sprang sie in den Fluss, doch der Fährmann folgte ihr. Gott erbarmte sich des Mädchens und verwandelte es in einen Delphin. Zur Strafe wurde der Fährmann in einen schwanzlosen Tümmler verwandelt, bei den Fischern heute als Flussschwein bekannt.
Niemand achtet hier groß auf Fahrspuren und unser Fahrer ist keine Ausnahme. Er hat den Fuß auf dem Gaspedal und schert sich nicht um Autos oder Radfahrer. Schließlich hält das Taxi mit quietschenden Reifen vor einem hässlichen Gebäudekomplex aus Beton neben einem See. Wir werden von einem freundlichen Mann in weißem Baumwollhemd und grauer Hose begrüßt, der sich als Dr. Wu vorstellt. »Haben Sie Genehmigungen?«, fragt er.
Elvis Paris zeigt ihm ein abgegriffenes Dokument mit einem roten Siegel, das offiziell aussieht. Ich habe keine Ahnung, woher er es bekommen hat, heute Morgen war ihm gewiss keine Zeit geblieben, um Sondergenehmigungen gleich welcher Art einzuholen. Vielleicht ist dieses vergilbte Pergament mit dem kunstvollen Siegel eine Art Sesam-öffne-Dich für viele Türen. Dr. Wu sieht skeptisch aus, doch er akzeptiert das Dokument als Beleg, dass wir uns im Besitz einer offiziellen Besuchserlaubnis befinden. Von Eintrittskarten ist keine Rede und Elvis Paris bietet ihm auch nicht den geringsten Anteil an den achthundert Yuan an, die er von uns kassiert hat.
»Ich freue mich sehr, dass Sie gekommen sind«, sagt Dr. Wu in tadellosem Englisch. »Heute besteht nicht mehr viel Interesse an dem Delphin. Jeder hat nur noch Elektrizität und Ökonomie im Kopf.«
Elvis Paris lächelt. »Millionen Menschen von Fluss abhängig. Nur fünfzig baiji . Wer mehr wichtig?«
Dr. Wu lacht nervös, dann verstummt er. Er führt uns in ein Gebäude mit einem kleinen kreisrunden Wasserbecken, kaum mehr als drei Meter tief. »Er ist der einzige baiji, der in Gefangenschaft lebt«, sagt Dr. Wu. »Wir haben ver sucht, ihn zu züchten, doch es ist sehr schwer, eine Gefähr tin für ihn zu finden. Das Weibchen, das wir vor zwei Jahren hierher brachten, starb.«
QiQi ist ungefähr zwei Meter lang, hat eine beinahe komisch lange Nase, die spitz wie eine Nadel ist, und erschreckend menschliche, kindliche Augen. Er zieht seine Bahnen im Becken, immer im Kreis, dreht und wendet sich und führt uns seine Künste vor. Er kommt so nahe heran, dass ich ihn berühren kann, dann dreht er sich auf den Rücken und winkt mit seiner weißen Flosse. Zum Schluss dreht er sich wieder zurück und stößt einen langen, hohen Pfeifton aus.
Dr. Wu sagt, dass QiQi aus den rotierenden Angelhaken eines Fischers befreit wurde und sich glücklich schätzen darf, noch am Leben zu sein. Die Stellen, an denen die Haken eingedrungen sind, sieht man heute noch, hunderte von kleinen Narben auf QiQis Rücken zeugen davon.
Dave beugt sich vor und späht ins Becken. Wir hatten nie ein Haustier, weil er die Ansicht vertritt, Tiere sollten nicht in einer New Yorker Wohnung eingesperrt sein. Ich sehe, dass ihn der Anblick des gefangenen Delphins aufwühlt. »Wie alt kann er werden?«, fragt er.
Dr. Wu schüttelt den Kopf. »Der baiji gehört zu den geselligen Tieren. Alleine zu leben ist nicht gut für ihn. Als Junge sah ich viele Delphine im Fluss. Mein Vater war Fischer. Die Fischer hegten damals noch große Bewunderung für die Delphine. Einmal verfing sich ein baiji in den Netzen meines Vaters. Obwohl wir arm waren und oft Hunger litten, ließ mein Vater den baiji frei. Kurz darauf verkündete Mao, dass die Fischer den Delphinen keine Schonung mehr angedeihen lassen sollten. Ihm missfiel, dass der baiji ›Flussgöttin‹ und ›Herrscher des Jangtse‹ genannt wurde. Er sagte, es gäbe weder Göttinnen noch Herrscher und den baiji zu verehren sei konterrevolutionär.«
Elvis Paris lächelt, enthüllt eine Reihe kleiner, schimmernder Zähne. »Das war vor lange Zeit. Heute nicht wichtig.«
»Der Delphin ist nicht die einzige Tierart, die wegen des Staudamms auszusterben droht«, sagt Dr. Wu. »Auch der Schneeleopard, der schwanzlose Tümmler und der sibirische Kranich sind gefährdet.« QiQi gleitet an uns vorüber, den silberweißen Bauch nach oben gekehrt, und Dr. Wu greift ins Wasser und lässt seine Finger über die vernarbte Haut des Delphins gleiten. Vor zwanzig Jahren, erklärt er, gab es tausende von baiji. Doch der Delphin hatte zu viele Feinde: Boote, Wasserverschmutzung, Nahrungsknappheit. Im Verlauf von Abermillionen
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