Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
ziehen wir uns ins Wohnzimmer zurück. Yuk Ming bringt das Dessert, eine Schüssel mit durchscheinenden weißen Litschis. Nachdem ich sie gekostet habe, fragt sie: »Was halten Sie von wunderbarem Drei-Schluchten-Damm?«
Die Frage kommt überraschend, ich wäge meine Worte sorgfältig ab. »Viele namhafte chinesische Wissenschaftler und Ingenieure machen sich Sorgen wegen des Damms.«
Yuk Ming und Wang sehen sich an und lachen nervös. Wang trägt die Litschi-Schüssel in die Küche. Als er zurückkehrt, rückt er einen Stuhl vor das Sofa, auf dem ich sitze. Er beugt sich vor, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. »In China gibt nur wenige richtige Wissenschaftler und Ingenieure von diese Anschauung«, sagt er. »Wer gegen Damm spricht, will Volk Angst machen und Regierung untergraben. Damm ist gut für China. China erzeugt viele Produkte für Ihr Land und Rest der Welt. Wir brauchen Strom für Herstellung von diese Produkte. Und zu viele Menschen jedes Jahr sterben bei Überschwemmung. Damm rettet Leben.«
»Mag sein«, erwidere ich. »Doch was ist mit den Bauern, die auf die fruchtbaren Böden in den Überschwemmungsgebieten angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu fristen?«
»Für sie Regierung errichtet saubere neue Dörfer«, sagt Yuk Ming. Als wollte sie ihr Argument untermauern, reicht sie mir nun eine Broschüre, die, welch ein Zufall, auf einem kleinen Beistelltisch neben dem Sofa liegt. In ihr befinden sich Aufnahmen von Kindern, die freudestrahlend vor modernen Wohnklötzen spielen. Auf einem der Bilder sieht man hinter dem hellen, sauberen Gebäude, das der Fotograf offensichtlich ablichten wollte, ein wei teres, auch modern, doch bereits im Verfall begriffen. Yuk Ming erklärt, das sei Ling Bau, ein Modelldorf für Umsiedler, dreißig Kilometer von Yichang entfernt. »Regierung hat genug Wohnraum für alle Familien von Yichang errichtet. Jede Wohnung hat Fernsehgerät. Ist sehr gut für Volk.«
Während ich in der Broschüre blättere, fällt mir ein Nachmittag in meinem Studio-Apartment während des ersten College-Jahres in New York City ein. Seit Amanda Ruths Ermordung waren vier Monate vergangen und ich hatte das Frühjahrssemester wie in Trance hinter mich ge bracht. Ich war unfähig, die zugewiesenen Arbeitsprojekte zu beenden, schwänzte oft Vorlesungen, kapselte mich völlig ab und wollte tagelang keinen Menschen sehen, außer Dave, der mit einer Pizza von John’s oder einem chinesischen Gericht zum Mitnehmen vor meiner Tür stand und mich zwang, etwas zu essen. Es war zwei Uhr nachmittags, ein Donnerstag, und ich lag noch im Bett. Dave war seit dem vergangenen Samstag in Florida, bei irgendeinem Seminar, und in seiner Abwesenheit hatte ich jedes Zeitgefühl verloren. Es gab kaum etwas Essbares in der Wohnung, das Telefon war ausgestöpselt und meine Lehrbücher steckten ungelesen in einem Rucksack, den ich seit einer Woche nicht mehr angerührt hatte. Es läutete an der Tür, doch ich achtete nicht darauf. Es läutete und läutete. Ich lag auf dem Rücken, starrte die Decke an und fragte mich, wer das sein mochte. Mehrere Minuten herrschte Stille, dann klopfte jemand an die Tür. Ich stand auf und streifte das Einzige über, was ich in der Eile finden konnte, ein blaues T-Shirt, das gerade bis zum Ansatz meiner Oberschenkel reichte. Ich schlich auf Zehenspitzen zur Tür und spähte durch das Guckloch. Ein junger Mann stand auf der Schwelle – niemand, den ich kannte. Er trug ein weißes geknöpftes Hemd und eine dunkle Krawatte. Seine Haare waren blond, ordentlich gebürstet.
Er klopfte abermals. »Hallo? Ich weiß, dass Sie zu Hause sind.«
»Was wollen Sie?«
»Ich komme von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage.«
»Ich bin beschäftigt.«
»Ich möchte Sie bitten, mir nur fünf Minuten Ihrer Zeit zu schenken, Ma’am.«
»Woher weiß ich, dass Sie der sind, für den Sie sich ausgeben, und nicht irgendein durchgeknallter Spinner?«
Eine Visitenkarte wurde unter der Tür durchgeschoben, die ihn als John Slattery auswies, Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Nach der Visitenkarte folgte eine Broschüre mit dem Titel Die Frohe Botschaft. »Ich tue Ihnen nichts, Ma’am. Ich bin hier, um mit Ihnen über die Liebe Christi zu sprechen.«
»Moment«, sagte ich. Ich ging ins Bad und putzte mir die Zähne, kämmte mich und legte Lippenstift auf. Als ich zurückging und erneut durch das Guckloch spähte, stand er immer noch da. Aus
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