Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
»Und das Zimmer gehört mein Sohn«, sagt sie mit einer ausholenden Geste in Richtung des zweiten Schlafzimmers. In einem anderen Leben hätte sie Vanna White sein können, die in einer bekannten amerikanischen Fernsehshow die »Glücksfee« spielt. Die Miniatur-Matratze in der Ecke ist mit Mickey-Maus-Bettwäsche bezogen. Irgendetwas stimmt nicht ganz mit der Mickey Maus, obwohl ich nicht genau sagen könnte, was. Und dann wird mir klar, dass die Ohren nicht schwarz sind, entsprechend dem Markenzeichen der pfiffigen Maus, sondern scharlachrot.
»Hier ist unser Arbeitszimmer, bequem und praktisch«, sagt Yuk Ming und öffnet eine gläserne Schiebetür, die in einen dritten, kleineren Raum führt. Der Schreibtisch besteht aus dem gleichen glänzenden Material wie die Truhe im Schlafzimmer und auf dem Schreibtisch steht ein brandneuer Computer. Wie bei der Mickey Maus scheint auch bei dem Rechner etwas nicht ganz zu stimmen. Es dauert einen Moment, bis mir bewusst wird, dass er nicht angeschlossen ist. Es gibt keine Kabel, keinen Drucker, nicht einmal eine Tastatur, sondern nur einen riesigen Bildschirm und einen CD-ROM -Turm. An der Wand hängen drei Fotos in schwarzen Kunststoffrahmen, die sich wie ein Ei dem anderen gleichen: Auf dem einen ist Mao Zedong zu sehen, auf dem zweiten Jiang Xemin und auf dem dritten ein kleiner Junge, der vor einem Springbrunnen steht und die Arme seitlich an den Körper gepresst hält, er sieht überrascht und ein wenig ängstlich aus. »Mein Sohn!«, sagt Yuk Ming. »Er ist jetzt in Schule.«
»Hübsch.« Ich trete näher heran und sehe, dass es sich bei dem Foto des Jungen um eine Postkarte handelt.
Yuk Ming ergreift meine Schulter und zieht mich weg. »Warum setzen wir uns nicht Wohnzimmer und lernen kennen?« Ich komme mir vor, als würde ich die Kulisse einer amerikanischen Fernsehshow betreten, etwa 1970. Ich erwarte halb, dass Yuk Ming einen Thunfischauflauf herbeizaubert und mir ihre Tupperware-Sammlung zeigt.
Das Sofa mit dem schwarzen Velourpolster sieht völlig unbenutzt aus. Die ganze Wohnung wirkt seltsam steril. Sie hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit den winzigen Apartments der Chinesen in Chinatown, die ich dutzendweise zu Gesicht bekam, als ich mich mit einer Freundin auf Wohnungssuche begab. Sie hatten Atmosphäre, weil sie von Leben zeugten. Sie waren angefüllt mit Essensgeruch, mit Topfpflanzen in verschiedenen Gesundheits stadien, mit Stühlen und Hockern und Betten und Tischen, die abgenutzt wirkten. Diese Wohnung hier hatte etwas entschieden Unchinesisches, als würden mir Yuk Ming und ihr Mann eine von Grund auf sanierte Version des chinesischen Lebens vorführen, ohne den Schmutz und das Elend, das Gewimmel der Freunde und Verwandten, die Geräusche und Gerüche und die kleinen Katastrophen des Alltags. Das hier scheint kommunistischer Edel-Look zu sein, das neue China, mit allen Segnungen des modernen Lebens, von denen ich meinen Landsleuten nach der Rückkehr in die Heimat berichten soll.
Yuk Ming wirft mir ein Marcia-Brady-Lächeln zu, ihre Zähne sind strahlend weiß, sie könnte für die Zahnpasta Reklame machen. »Das ist also ein typisch moderne chinesische Wohnung«, sagt sie.
»Sehr schön«, sage ich.
»Nun werden wir Lunch in bequemes Esszimmer zu uns nehmen«, sagt Yuk Ming. Sie geht voran, durch die Küche in einen kleinen Raum, der ebenfalls durch eine glä serne Schiebetür abgetrennt ist. Der Tisch biegt sich unter den Speisen, die aufgefahren wurden: Schweinefleisch, Fisch, Huhn, gedämpfter Reis, mehrere Arten Klöße, verschiedene Gemüsesorten, gekonnt in Schälchen mit zarten floralen Mustern angerichtet. Eine mit Schnitzereien verzierte weiße Schale in der Mitte des Tisches enthält Haifischflossensuppe. Yuk Ming schenkt Tee ein und legt etwas von jedem Gericht auf meinen Teller, bevor Wang und sie sich bedienen.
»Das schmeckt köstlich«, sage ich und beginne, mich zu entspannen. »Wo haben Sie das her?«
»Wang hat dieses gemacht«, sagt Yuk Ming.
Das kann nicht sein, denn die Küche ist makellos und ich bin sicher, dass der Kühlschrank leer wäre, wenn ich die Tür öffnen würde. Während des Essens erkundigen sie sich nach meiner Familie, meiner Arbeit, meinem Mann. Sie wollen wissen, ob ich die Reise genieße, und ich antworte zu ihrer offenkundigen Zufriedenheit, dass ich China faszinierend finde. Als sie wissen wollen, warum ich hier bin, flunkere ich. »Ich wollte schon immer nach China.«
Nach dem Mittagessen
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