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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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China.«
    »Haben Sie Kinder?«, frage ich in der Hoffnung, die Unterhaltung in persönlichere Bahnen zu lenken.
    »Ich habe ein Sohn. Er sieben Jahre alt. Sehr helle Kopf!« Und dann geht Yuk Ming nahtlos dazu über, die Ein-Kind-Politik in höchsten Tönen zu loben. »Ein Kind ist Beste. Mehr nicht, ist zu viel. Wenn ein Kind, dann hat Zeit für verbringen mit ihm, kann perfekt Mutter sein.«
    Hätte ich den Wunsch gehabt, mit Propaganda überschwemmt zu werden, befände ich mich jetzt mit Elvis Paris bei der Stadtbesichtigung. Lächelnd stehe ich auf, schicke mich zum Gehen an. »War nett, Sie kennen zu lernen.«
    »Bitte gehen Sie noch nicht!« Lächelnd steht sie auf, berührt meinen Arm. »Ich bin sehr an einem Gespräch und einem Kulturaustausch interessiert. Bitte kommen Sie mit zu mir nach Hause, ich möchte Sie zum Mittagessen einladen.«
    Der abrupte Wandel in den Englischkenntnissen meiner neuen Bekannten verblüfft mich. Vielleicht hat sie die letzten Sätze aus einem Lehrbuch, wie man Kontakt zu Ausländern knüpft, zitiert.
    »Wir werden einen schönen Spaziergang machen«, sagt sie. »Ich zeige Ihnen einige malerische Winkel.« Noch mehr Phrasen, die wie auswendig gelernt klingen. Das Lehrbuch muss erstklassig sein. Ich nehme die Einladung an, ich warte gespannt auf die Gelegenheit, einen echten chinesischen Haushalt kennen zu lernen, nicht die Touristenattraktionen, in die uns Elvis Paris dauernd schleift.
    »Ich muss nur noch einmal telefonieren«, sagt sie und holt ein schmales rotes Handy aus ihrer Handtasche. Sie schaltet es ein, wählt und wartet auf die Stimme am anderen Ende der Leitung, dann sagt sie schnell etwas auf Mandarin. Sie steckt das Handy wieder ein. »Gehen wir. Kommen unter meinen Schirm.« Der Regen trommelt auf die Blätter der Bäume, welche die Straße säumen. Yuk Ming summt leise vor sich hin. Das Blumenmuster ihres Regenschirms spiegelt sich in den Pfützen auf der Straße wider. Unsere Spiegelbilder hüpfen Seite an Seite auf und ab – meines ein wenig größer, ihres ein wenig dünner. »Was für Musik gefällt Ihnen?«
    »Louis Armstrong, Nina Simone, Ella Fitzgerald. Ich gestehe es nicht gerne ein, doch ich habe außerdem ein Faible für einige Bands aus den achtziger Jahren, wie Culture Club und Simple Minds . Kennen Sie die?«
    »Nein, doch ich liebe amerikanische Sänger – Elvis Presley und Michael Jackson.« Sie beginnt Are You Lonesome Tonight zu summen.
    »Perfekt«, sage ich.
    »Oh!« Sie sieht erfreut aus. »Ich kenne die Worte nicht.« Ich singe ihr den Text vor, treffe allerdings kaum einen Ton. Sie lacht. Wir biegen nach links ab, in eine schmale Gasse. Etwa ein dutzend junger Männer arbeitet mit nack tem Oberkörper auf einem Schutthaufen, sie zerkleinern Ziegelsteine mit der Breithacke, während eine Gruppe älterer Frauen die verkohlten Überreste eines abgebrannten Gebäudes durchstöbert. Alle halten wie auf Kommando inne und starren uns an, als wir vorübergehen. Und dann erhebt sich vor uns, wie Phönix aus der Asche, ein brandneues Gebäude, ein zehnstöckiges Hochhaus, wie viele Neubauten in China mit glänzenden weißen Kunststoffplatten verkleidet, die aussehen, als würden sie nicht einmal dieses Jahr überdauern. Ich könnte mir vorstellen, dass es sich hier um eine chinesische Erfindung handelt: das Einweggebäude, nach einmaliger Benutzung wegzuwerfen, Säubern oder Renovieren entfällt.
    »Da sind wir«, sagt Yuk Ming, legt ihren Schirm zusammen und schüttelt das Wasser auf dem winzigen Vorhof des Gebäudes ab. Sie gibt eine Reihe von Zahlen in ein Tastenfeld ein und die Eingangstür öffnet sich wie von Zauberhand.
    Wir fahren mit einem makellosen Fahrstuhl in den zehnten Stock und gehen durch einen langen Korridor. Als wir uns ihrer Wohnung auf Armeslänge genähert haben, geht die Tür auf, wie auf ein Stichwort, und ein gut aussehender junger Mann in frisch gebügelten Khakihosen und einem karierten geknöpften Hemd erscheint auf der Schwelle. Yuk Ming stellt ihn als Wang, ihren Ehemann, vor. »Wir freuen uns sehr über Ihre Gesellschaft«, sagt er und schüttelt mir die Hand.
    Alles in der Wohnung riecht neu: Farbe, Teppichboden, Möbel. Yuk Ming führt mich stolz herum. Die Wohnung hat zwei geräumige Schlafzimmer, in dem einen steht ein breites Doppelbett mit einer Tagesdecke aus schwarzem Satin und eine kleine Kommode mit Schubladen. Ein gerahmtes Bild mit ungelenk gemalten Blumen hängt an der Wand neben dem schmalen Fenster.

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