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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Neugierde, vielleicht auch aus Langeweile, öffnete ich die Tür, trat einen Schritt zurück und ließ ihn schweigend eintreten. Er starrte auf meine bloßen Beine, errötete und wandte hastig den Blick ab. Ich machte die Tür hinter ihm zu. »Möchten Sie etwas trinken? Kaffee?«
    »Nein danke.« Er rückte seine Krawatte zurecht. In einer Hand hielt er eine Aktentasche. Bemüht, seine Verlegenheit zu überbrücken, blickte er sich im Raum um, doch der Raum war klein und es gab nicht viel zu sehen – eine Frisierkommode aus dem Trödelladen mit weit herausgezogenen Schubladen, eine große weiße Papierlaterne und ein paar Lattenkisten, die mit Büchern voll gestopft waren.
    »Tut mir Leid. Hatte ich vergessen. Mormonen trinken ja keinen Kaffee, oder? Ich kann Ihnen Mineralwasser anbieten oder Sprite. Dürfen Sie Sprite trinken?« Ich schob mich an ihm vorbei in die Küche, die knapp einen Quadratmeter maß, mit einem winzigen Kühlschrank unter dem Spülstein.
    »Leitungswasser wäre gut.«
    Sein Blick fiel auf das Bett. Es war aufgedeckt und das Kopfkissen eingedellt. Mit Sicherheit sah er mir an, dass ich geschlafen hatte. Ich spülte ein Glas aus, füllte es mit Wasser aus dem Hahn und reichte es ihm. Unsere Finger berührten sich. Er wurde rot. »Danke.«
    »Ich schlafe nicht immer so lange«, sagte ich. »Ich war bis nach Mitternacht auf, habe gelernt.« Ich überlegte, ob er wohl merkte, dass ich log. Vielleicht gehörte das Durch schauen von Lügen zur Ausbildung eines Missionars. »Neh men Sie doch Platz.« Er sah sich so angestrengt im Raum um, als könnte jeden Moment ein Sofa auf der Bildfläche erscheinen. »Auf dem Bett«, fügte ich hinzu. »Ich bin noch nicht komplett eingerichtet.«
    Er ließ sich vorsichtig auf der Kante der Matratze nieder, stellte sein Wasserglas auf den Fußboden und warf abermals einen flüchtigen Blick auf meine bloßen Beine. »Es gibt einen IKEA -Bus«, sagte er. »Ein Zubringer, der die Leute an der Penn Station einsammelt und nach New Jersey rausfährt. Dort können Sie ziemlich preisgünstig Stühle kaufen. Ich bin mal mit meinem Freund Joseph hingefahren.«
    Als ich mich neben ihn setzte, sackte das Bett unter dem gemeinsamen Gewicht nach unten. Sein Gesicht wurde feuerrot. »Sie haben dort auch Teller, Servietten, Bilderrahmen, alles, was Sie wollen.« Und dann, als besänne er sich mit einem Mal, weshalb er hier war: »Wissen Sie etwas über Jesus?«
    Ich nickte. »Ich bin in Alabama aufgewachsen. Dort bekommt man Jesus und Football mit der Muttermilch eingetrichtert.« Er lachte nicht. »Entschuldigung. Das war vermutlich eine Gotteslästerung oder so.«
    »Keine Sorge. Gott ist barmherzig, er verzeiht selbst die schlimmste Sünde.« Er zupfte an seinem Kragen, als fürch tete er plötzlich zu ersticken. Er roch gut, wie Brot. Ich hätte gerne gewusst, ob er schon einmal mit einer Frau ge schlafen hatte. Vermutlich nicht. Er öffnete seine Aktentasche, zog das Buch Mormon heraus, dann schloss er die Aktentasche wieder und stellte sie auf den Fußboden. »Ich möchte mit Ihnen über ein ganz besonderes Werk sprechen. Es enthält das Wort Gottes.«
    »Nichts für ungut, doch woher wollen Sie das wissen?«
    »Am 21. September 1823 erschien der wieder auferstandene Prophet Moroni einem Mann namens Joseph Smith. Er unterwies ihn in der alten Schrift und wie er diese in die englische Sprache übertragen sollte.« Als wollte er die Stichhaltigkeit seiner Behauptung beweisen, hielt er mir das Buch vors Gesicht und beobachtete meine Miene. Offenbar hoffte er, ich würde ihm das Buch vor lauter Begeisterung aus den Händen reißen, in dem verzweifelten Verlangen nach Gottes Wort. In dem Moment wurde mir bewusst, dass es mich danach verlangte, ihn zu verführen – nicht nur, weil er attraktiv war, sondern weil ich wissen wollte, ob es mir gelingen würde. Dave und ich kannten uns seit vier Monaten und zwischen uns herrschte die stillschweigende Übereinkunft, dass wir beide ungebunden waren, obwohl ich seit unserer Rückkehr aus Alabama mit niemandem mehr zusammen gewesen war. Mir war indes klar, dass die Beziehung zwischen Dave und mir auf etwas Dauerhaftes hinauslief, und möglicherweise hielt ich nach einer letzten Gelegenheit Ausschau, mich auszutoben, bevor ich mich endgültig auf ihn einließ.
    Ich rückte näher an John Slattery heran, so dass sein Hemdsärmel meinen Arm streifte. Er öffnete hastig das Buch. »Ich möchte Ihnen ein paar Verse vorlesen«, murmelte

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