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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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ersten Engpass entgegen. Der Fluss scheint unbezwingbar zu sein. Hier ist er tief und hat eine gewaltige Strömung. Ich sehe die Kräne, den Beton, die felsigen Hügel aus gesprengtem Granit, höre das Getöse der Drillbohrer und Meißel. Doch diese nackten Tatsachen reichen nicht aus, um mich zu überzeugen. Ich kann nicht glauben, dass sich dieser schnelle, machtvolle Fluss einfach aufhalten, hinter eine von Men schenhand errichtete Mauer verbannen lässt, zur Reglosig keit verdammt. Ich verstehe nichts von Physik, Mathe matik und den höheren Weihen der Ingenieurtechnik, doch ich sehe und spüre die Kraft dieses uralten, wunderbaren Stromes. Mein Instinkt sagt mir, dass er sich nicht so leicht zähmen lässt.
    Bald darauf erreichen wir die Xiling Schlucht. Graham übersetzt mir eine Reihe riesiger chinesischer Schriftzeichen, die in Weiß auf die nackte Wand einer Klippe gemalt sind: Dient dem Volk. Baut den Drei-Schluchten-Damm. Grüne Hügel erheben sich schichtweise aus dem Wasser. Durch den Dunst erkenne ich kleine Häuser, die sich dicht ans Ufer schmiegen, dahinter steile, terrassierte Berge. Vereinzelte Gestalten stehen auf Bambusflößen, sie benutzen lange Stangen, um durch die Stromschnellen am Rande des Flusses zu steuern. Boote mit flachem Rumpf fahren stromabwärts an uns vorüber, beladen mit goldenem Heu. Magere Ziegen streifen über die Hänge, auf der Suche nach Futter. Die Luft ist schneidend kalt, nur ein verschwommener Schatten der Sonne ist durch den Dunst sichtbar.
    Die Stimme zählt die Namen der Sehenswürdigkeiten auf, die an unserem Weg liegen: Sanyou Höhle, Drei Messer, Lampenschatten, Ochsentempel. Hinter dem Tempel ragt ein hoher Berg auf. »Schauen genau auf Berg und Sie sehen starken jungen Mann, der Ochsen führt«, sagt Die Stimme. Plötzlich tauchen die Klippen von Kongling auf, auch Tor zur Hölle genannt, weil schon viele Boote auf den gefährlichen Riffen zerschellt sind.
    Die Felshänge sind nackt und steil. An manchen Stellen stehen die Bergsockel zu beiden Seiten des Flusses so dicht beieinander, dass ich sicher bin, der Durchlass ist zu schmal für uns. Doch jedes Mal, wenn es scheint, als würden wir auf eine Katastrophe zusteuern, dreht sich das Schiff, genau im richtigen Augenblick und im richtigen Winkel, so dass wir unsere Fahrt flussaufwärts unbeschadet fortsetzen können. Ich habe das Gefühl, in einem bizarren Traum gefangen zu sein – die grünen Berge, der blasse Dunst, die schwere Blechdose, die unter meiner Jacke verborgen ist.
    »Schau, die Treidelpfade«, sagt Graham. Er deutet auf Einkerbungen im Fels längsseits der Klippen und erklärt, wie die ›Treidler‹ früher die Boote per Hand durch die Schluchten zogen. Sie bildeten Menschenketten zu beiden Seiten des Flusses, ein einziges langes Seil um die Taille geknotet, so dass jeder von ihnen mit allen anderen verbunden war, auf Gedeih und Verderb. Stolperte einer, weil ihn die Kräfte verließen, zogen die anderen das Schiff ohne ihn weiter. Er starb in der Kette, wurde mitgeschleift. Zehn tausende verloren auf diese Weise ihr Leben.
    »Wo sind die Treidler jetzt?«
    »Durch hochleistungsfähige Maschinen ersetzt. Bis Anfang der achtziger Jahre waren sie noch im Einsatz, ich habe sie mit eigenen Augen gesehen. Ein gespenstischer Anblick – eine Armee von Treidlern, zum Skelett abgemagert, die mit ihren Füßen Schicht um Schicht die nackten Felswände abtrugen. Sie hatten nichts Menschliches mehr an sich.«
    Ich stelle mir ausgemergelte Männer vor, die den steilen Bergpfad erklimmen und riesige Schiffe hinter sich herziehen, die tonnenweise menschliche und materielle Fracht an Bord führen. Dass die Chinesen mit dem Fortschritt liebäugeln, ist angesichts dessen leicht verständlich. Für die Bevölkerung, die am Fluss lebt, stellt der Fortschritt gewiss einen Luxus dar, ein Ende des menschlichen Leidens.
    Nach einigen Minuten des Schweigens stößt Graham mich sacht an. »Woran denkst du?«
    »An nichts. Und du?«
    »An vieles. Vor allem denke ich daran, was für ein Glückspilz ich bin, dich gefunden zu haben.«
    »Ich muss dir etwas sagen. Gestern Nacht …«
    »Nicht«, sagt er. »Es spielt keine Rolle.« Nach einer Pause sieht er mich an. »Würdest du mir einen Gefallen erweisen, wenn ich dich darum bäte?«
    »Natürlich.«
    »Auch wenn es dir schwer fällt?«
    »Worauf willst du hinaus?«
    Er dreht sich um, legt die Hände auf meine Schultern und sieht mich mit einem Blick an, der mich

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