Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Bild, das in Amanda Ruths Zimmer im Studentinnenwohnheim in Montevallo aufgenommen wurde, sitzt der Lampenschirm neben dem Bett leicht schief. Auf dem Foto von der Marschkapelle der Junior High ist die Spitze ihres rechten Stiefels abgewetzt. Ich könnte genau sagen, welche Gegenstände auf jeder Aufnahme zu sehen sind, wo sich Amanda Ruths Hände befinden, wie die Lichtqualität ist oder ob der Schatten einer anderen Gestalt ins Bild fällt. Doch es sind nicht nur die Fotos, die sich mit einer Unauslöschlichkeit, die ich abwechselnd tröstlich und beunruhigend finde, in mein Gedächtnis eingebrannt haben. Ich erinnere mich deutlich an ihre Gesten und Gebärden – an ihren anmutigen Gang, an die Art, wie sie einen Fuß vor den anderen setzte, mit der gleichen Präzision wie ein Akrobat auf dem Drahtseil. Ich erinnere mich an die Achtlosigkeit, mit der sie das Geburtsmal auf ihrem rechten Oberschenkel mit dem Finger nachzeichnete, wie sie sich eine Haarsträhne mit dem Handrücken aus dem Gesicht strich.
Ich habe vierzehn Jahre gebraucht, um an diesen Punkt meines Lebens zu gelangen. Vierzehn Jahre, angefüllt mit Amanda Ruth, ein Schatten in einem verborgenen Winkel meines Gedächtnisses, ein kalter Stein, den ich in meiner Brust mit mir herumtrage, eine schmerzliche Erinnerung, ein Versprechen. Vierzehn Jahre lang habe ich auf ein Zeichen gewartet, das mir sagt, es sei an der Zeit, sie gehen zu lassen. Wahrscheinlich habe ich erwartet, ihre sanfte Stimme im Nebel nach mir rufen zu hören. Wahrscheinlich habe ich erwartet, mich eines Abends umzudrehen und ihre Gestalt zu erspähen, schlank und überschattet im Mondlicht, wie sie mir zum Abschied zuwinkt. »Setz dein Leben endlich fort«, würde sie sagen und sich lachend umdrehen, um in die Dunkelheit zurückzukehren – ihr Gesicht würde zuerst verblassen, dann ihr Haar, ihre ausgestreckte Hand, der Saum ihres Rockes, ihr zarter Fußrücken. Natürlich kam kein Zeichen. Sie flüsterte mir nie etwas aus dunklen Ecken zu. Ihr Bild verblasste nie, so wie es Toten geziemt. Im Lauf der Jahre wurde es sogar noch klarer.
Und nun befinde ich mich auf diesem Fluss, mit einer Mission. Ich habe nichts von ihr gehört, doch ich muss sie loslassen. Sie ist tot und kann mir nicht mehr verzeihen. Ich muss mir selbst verzeihen.
Der Deckel der Dose klemmt. Ich versuche, ihn mit den Fingern aufzumachen, doch er bewegt sich nicht. Ich hole eine Münze aus meiner Tasche und bearbeite damit die Ränder. Endlich gibt der Deckel nach. Ich stoße auf ein zweites Hindernis, einen billigen Plastikbeutel, zugeschweißt. Ich versuche, ihn zu öffnen, doch meine Fingernägel sind nutzlos. Ich versenke meine Zähne hinein, so wie Amanda Ruth einer Tüte Kartoffelchips zu Leibe rückte. Ich kämpfe mit der Materie. Plötzlich reißt der Beutel und Amanda Ruths Asche weht in sämtliche Himmelsrichtungen davon.
Oft stellt man sich ein wichtiges Ereignis jahrelang in allen Einzelheiten vor. Man hat gewisse Erwartungen, wie der große Augenblick verlaufen sollte. Ein feierliches Ritual, eine Erleuchtung, eine bedeutungsvolle Situation. Vielleicht glaubt man sogar, dass himmlische Stimme erklingen und die Wolken aufreißen müssten, damit das Sonnenlicht sich seine Bahn brechen kann. Man redet sich ein, dass die Natur mitspielen, dass alles nach Plan verlaufen wird. Doch die großen Augenblicke im Leben haben die Neigung, zu enttäuschen – der Kuss nach dem Ehegelöbnis ist oft banal, der Name auf der Graduierungsurkunde falsch geschrieben. Statt einer stillen Stunde in China, wenn die Morgendämmerung über dem glasklaren Fluss hereinbricht und die Asche wie weißes Konfetti davonweht, stellt man fest, dass diese Asche aussieht, als bestünde sie aus Kieselsteinen und Knochensplittern, eine feste Substanz von überraschender Schwere und Textur. Kieselsteine klickern über die Reling des Schiffes, gleiten an meinem Rock herab, werden mit dem Wind in Richtung Karaoke-Bar verstreut, wo gerade jemand ein Lied von Jimmy Buffet verunstaltet.
Es fängt als leises Kichern an, dann breche ich in unkontrollierbares, anhaltendes, schallendes Gelächter aus. Tränen laufen über mein Gesicht. Mein Bauch schmerzt vor Lachen. Amanda Ruth würde es gefallen, dass die feier liche Zeremonie schief gelaufen ist. Jahrelang hat eine Stimme in meinem Innern zu ihr gesprochen, hat einen endlosen Monolog geführt, eine Stimme, die mir inzwischen so vertraut ist, dass kein Tag vergeht, ohne dass ich ihr leises
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