Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Schleusentor schließt sich hinter uns. Man hört, wie das Füllwasser hereinströmt, die Schiffe werden unmerklich angehoben. Man hat das Gefühl, sich in einem riesigen Aufzug zu befinden. Trotz der frühen Morgenstunde drängen sich die Schaulustigen auf der Brücke über uns – wie üblich ein Gemisch aus müden Arbeitern und lustlosen Soldaten, dazu einige gelenkige ältere Leute, die ihre allmorgendlichen Dehnübungen ma chen. Sie winken und tauschen Grußworte mit den Passagieren aus. Einige Straßenhändler gehen bereits ihren Geschäften nach und versuchen Postkarten und Jadebecher, getrockneten Aal zum Knabbern und Dampfbrötchen zu verkaufen. Eine Glocke erklingt, Lichter flammen auf, dann öffnet sich ein weiteres schweres Tor. Binnen fünf Minuten haben wir einen Höhenunterschied von mehr als dreißig Metern überwunden.
Ich höre den Baulärm, noch bevor der Damm zu sehen ist. Als er wie eine Geistererscheinung aus dem mit Staub erfüllten Nieselregen auftaucht, verkündet Die Stimme wie auf Stichwort: »Nun wir fahren in weltberühmte Drei- Schluchten-Damm. Nutzen Jangtse. Wasserkraft für Volk.« Eine Betonmauer säumt eine Seite des Flusses. Riesige Kräne ragen in den Himmel, ihre Hälse verschwinden im rauchigen Dunst.
Graham deutet auf einen Engpass weit vor uns, durch den das dunkle Flusswasser braust. »Dort wird die Mauer verlaufen«, sagt er. »Sie soll zweihundert Meter hoch werden.« In seiner Stimme schwingen sowohl ehrfürchtige Scheu als auch eine gewisse Verlegenheit mit. »Man stelle sich vor, einige von diesen Kränen sind mit meinen Sicherheitsgeräten ausgestattet.«
Was vor uns aufragt, mutet wie ein industrieller Albtraum aus der Ära des Kalten Krieges an. Die sanften Hänge der Hügel, zerfetzt von Sprengstoffladungen, sind nur noch steile, schroffe Böschungen aus erodierender Erde, gesprenkelt mit einem Gewirr von Baracken für die Arbei ter, Schutthaufen und Granit. Graham leiht mir seinen Feld stecher. Als ich hindurchblicke, erkenne ich kleine menschliche Gestalten, die in halsbrecherischer Höhe an einem Bambusgerüst hängen.
»Das war früher ein Berg«, sagt Graham. »Sie haben ihn zweigeteilt, um die Schleusentore zu bauen. Sogar ein Zehn-Tonnen-Schiff wird in der Lage sein, die zweiflügeligen Schleusentore zu passieren, vom Fluss ins Reservoir der Schleusenkammer aufzusteigen und auf der anderen Seite in einem See wieder aufzutauchen, der so spiegelglatt ist wie deine Badewanne.«
Der Lärm von Sägen und Bohrern und der Widerhall einer Explosion hallen durch die Schlucht. Die Luft ist grau und körnig. Jeder Atemzug stellt eine Herausforderung dar. Meine Augen tränen, meine Kehle brennt. Und ich muss es weniger als einen Tag hier aushalten. Die chine sische Regierung verweist mit Stolz darauf, dass sie fünf undsiebzigtausend Arbeitsplätze mit dem Bau dieses Damms geschaffen hat. Tschernobyl, Three Mile Island, Bhopal kommen mir in den Sinn. Die Regierung prahlt mit den Megawatt Energie, die man erzeugen will, mit Ausmaß und Tiefe des Stausees, mit der Anzahl der neuen Wohnhäuser, die für die evakuierte Bevölkerung errichtet wird. Doch ein Element hat man bei dieser Rechnung nicht berücksichtigt: den menschlichen Faktor.
Ich starre die Mammutbaustelle entgeistert an. »Wie können die Leute so etwas zulassen?«
»Was sollen sie denn deiner Meinung nach dagegen tun?« Graham lacht. »Plakate und Spruchbänder malen? Protestkundgebungen abhalten, zum Beispiel ein Sit-in?«
»Nun …«
»1992 demonstrierten einhundertachtzig Mitglieder der Jungen Demokratischen Partei im Verwaltungsbezirk Kaixian gegen den Bau des Damms. Sie wurden verhaftet und wegen Sabotage und konterrevolutionärer Umtriebe vor Gericht gestellt. Die von der Regierung abgesegnete Meinung über Mao lautet, dass er zu siebzig Prozent Recht und zu dreißig Prozent Unrecht hatte. Er brachte eine Atmosphäre nach China, die von Wahnvorstellungen geprägt ist und bis heute nicht überwunden wurde.«
»Was ist mit den einhundertachtzig Dissidenten passiert?«
»Sie sind spurlos verschwunden.«
Eine kleine Gruppe von Passagieren schart sich um Elvis Paris, der eine Lobeshymne auf den Damm singt. Er deutet auf eine riesige Ansammlung von Felsgestein, Kies und Zement, durchsetzt von Baukränen und Bohrgestellen. »Das früher Zhongbao Insel«, sagt Elvis. »Dank modernes Ingenieurkunst nutzlose Insel ist nun Fundament für größtes Damm in Welt.«
Die Red Victoria stampft vorwärts, dem
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