Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Murmeln in meinem Kopf vernehme, wie Gebete, von den Gläubigen an einen Gott gerichtet, in der Hoffnung, dass ER sie hört. Ich stelle fest, dass ich laut rede.
»Wie gefällt dir das, Amanda Ruth? Da bringe ich dich bis nach China, nur damit du einen Möchtegern-Rocksänger hörst, der Wasting away in Margaritaville zum Besten gibt.« Der Beutel ist noch nicht leer. Ich lehne mich so weit, wie ich mich traue, über das Heck und lasse die Asche davonfliegen. Ich schüttele meinen Rock aus und noch mehr Asche wird über die Reling verstreut.
Ich erinnere mich an einen Nachmittag am Demopolis River, als Amanda Ruth in einem Sommerkleid mit kleinen blauen Knöpfen an der Vorderseite zu ebendiesem Lied tanzte. Barfuß im hohen grünen Gras, wippte und wiegte sie sich hin und her, schüttelte den Kopf und streckte die Arme aus, um mich zum Mitmachen aufzufordern. Ich betrachtete sie – die Sonne wurde von dem glatten braunen Haar reflektiert, ihrem Haar, das wie Flusswasser glänzte. Damals wusste ich, so sicher wie das Amen in der Kirche, dass ich sie bedingungslos, ohne Wenn und Aber liebte.
Ich blicke in die dunklen Tiefen des Flusses, auf der Suche nach einem Spiegelbild der Frau, die ich heute bin. Gewiss, mein Gesicht hat sich verändert. Gewiss hat das, was soeben geschah, Spuren bei mir hinterlassen. Doch der Fluss ist undurchdringlich und meine Sicht verschwom men. Ich habe die Aufgabe erfüllt, deretwegen ich kam. In ein paar Tagen werde ich ohne sie nach Hause zurückkehren. Ich werde ihre Mutter besuchen. Ich werde Stück für Stück meine Wohnung durchforsten, werde die Dinge, die Dave gehören, von meiner persönlichen Habe trennen. Ich werde mir ein Studio in einem anderen Stadtteil suchen, Lower East Side vielleicht oder Murry Hill, und ein neues Leben beginnen, alleine.
24
Als die Dämmerung hereinbricht, verwandelt sich der Regen abermals in Dunst. Die Sonne erscheint und verschwindet wieder. Das Schiff erwacht. Wir legen in Yueyang an, wo irgendwelche Aktivitäten geplant sind, die einen ganzen Tag und die Nacht in Anspruch nehmen. Ich gehe zu Grahams Kabine. Er kommt im Bademantel an die Tür. Er sieht eingefallen aus, beinahe zerbrechlich, und ist schweißbedeckt. »Ich fühle mich heute sehr schlecht«, sagt er und steht auf der Türschwelle, verwehrt mir den Zutritt.
»Ich bleibe bei dir.«
»Du solltest dir die Stadt ansehen. Ich muss mich ausruhen.«
»Dann bleibe ich neben deinem Bett sitzen. Für den Fall, dass du mich brauchst.«
»Bitte«, sagt er.
»In Ordnung. Ich gehe in meine Kabine. Du kannst mich anrufen, wenn du einen Wunsch hast.«
»Nein.« Seine Stimme klingt hart, beinahe wütend. Und dann, sanfter: »Ich möchte nicht, dass du mich so siehst. Nicht jetzt.«
»In Ordnung.« Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und versuche, ihn zu küssen, doch es gelingt mir lediglich, seine Lippen zu streifen, bevor er sich abwendet.
Seit Wuhan greift der Schlendrian auf dem Schiff um sich. Die Frühstückstabletts von gestern säumen die Gänge, ein abgestellter Rollwagen der Putzkolonne blockiert den Treppenaufgang, der mit leeren Baji-Bierflaschen übersät ist. Auf dem Schwimmdock finde ich Dave und Stacy, die leise miteinander plaudern und Kaffee aus Pappbechern trinken. Als ich mich den beiden nähere, nimmt Dave abrupt die Hand von Stacys Schulter.
Ein alter Autobus holt uns am Kai ab und fährt mit uns über schlammige Straßen, bis wir die Ortschaft erreichen. Die Läden stehen so dicht an der Straße, dass wir die Arme zum Fenster herausstrecken und den Leuten, die an den vielen eckigen Tischen auf dem Gehsteig sitzen, leicht die Hand schütteln könnten. Junge Mädchen und alte Frauen quetschen sich gegen den Bus, als sich dieser im Schritttempo vorwärts bewegt. Sie bieten frittierte Teigstangen und mit Schweinefleisch gefüllte Klöße feil. Die Luft riecht salzig und süß. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich drücke einem Mädchen in geblüm tem Kleid vier Ein-Yuan-Scheine in die ausgestreckte Hand und sie reicht mir sechs »Pfannenkleber« durchs Fenster, in großen Eisenpfannen knusprig gebratene läng liche Teigtaschen mit Fleisch- und Gemüsefüllung. Ich teile sie mit Dave und Stacy.
»Köstlich«, befindet Stacy.
Dave wischt sich mit dem Handrücken das Fett von den Lippen. »Hat jemand Durst?«
Von einer anderen Frau, die neben dem Bus herläuft und ihre Waren mit lauter Stimme anpreist, kaufen wir drei Flaschen Orangenlimonade, die mich an meine
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