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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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beunruhigt. »Versprich es mir.«
    Die Sonne blendet. Der Fluss scheint endlos. Die Schluch ten mit ihren hoch aufragenden Klippen sehen aus wie ein aufgerissener Schlund, der uns zu verschlingen droht. »Natürlich«, höre ich mich sagen. »Alles, was du willst.«

23
    Die Reisebroschüre versprach die Durchfahrt der Wu- und Qutang-Schluchten bei Tageslicht, doch seit die Hälfte der Passagiere von Bord gegangen ist, nimmt es der Kapitän mit unserer Route nicht mehr so genau. Heute Abend ist der Vollmond in gelben Dunst gehüllt, das blasse Licht wandert über die Schwärze des Flusses. Klippen steigen senkrecht aus dem Wasser empor. Der gedämpfte Laut einer Karaoke-Darbietung unter Deck dringt nach oben, Gloria Gaynors Klassiker »I Will Survive«, Rhythmus und Tonlage völlig daneben. Vorher hatte ich einen Abstecher zum Raum der Doppelten Glückseligkeit gemacht, wo Elvis Paris den Passagieren gerade den Macarena-Tanz beibrachte. Dave und Stacy nahmen an der Veranstaltung teil, klatschten in die Hände, schwangen die Hüften und sahen aus, als gehörten sie zusammen.
    Irgendwann entdeckte mich Stacy auf der Türschwelle. Zwischen zwei Melodien gesellte sie sich zu mir und bat mich um eine Zigarette.
    »Tut mir Leid«, sagte ich. »Ich habe vor sechs Jahren mit dem Rauchen aufgehört.«
    »Wie hast du das geschafft?«
    »Mit Schokolade.«
    »Oh.« Sie sah mich einen Moment an, als versuchte sie, die richtigen Worte zu finden. »Es tut mir Leid«, sagte sie.
    »Was denn?«
    »Du weißt schon, das mit Dave. So was ist gemein. Ich hatte mir immer geschworen, dass ich niemals zu den Frauen gehören würde, die … die jemandem den Ehemann wegnehmen.«
    Wegnehmen klingt nach Diebstahl und ich frage mich, ob man es als solchen bezeichnen kann, wenn das Objekt der Begierde so willig mitspielt. Mir fiel keine Antwort ein. Schließlich fragte ich: »Warum tust du es dann?«
    »Dave ist so nett. Nie war jemand so nett zu mir, abgesehen von Psychiatern. Er gibt, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.«
    »Jeder Mensch erwartet etwas.«
    In diesem Moment gesellte sich Dave zu uns. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt, sein Gesicht war vom Tanzen gerötet. Er sah glücklich und eine Spur verlegen aus. »Bitte sag, dass du keine Fotos gemacht hast.«
    »Eine ganze Rolle. Ich bin neugierig, was deine Kollegen im Krankenhaus dazu sagen.«
    Stacy lachte nervös, dann stimmte Dave ein. Das Lachen kam mir wie ein Sakrileg vor, wie bei der Beerdigung meiner Großtante Isabelle, als ich nicht mehr aufhören konnte zu kichern. Ich hätte gerne gewusst, ob ich in diesem Augenblick als Einzige den Tränen nahe war.
    Nun ist es halb ein Uhr nachts. Ein kalter Wind pfeift durch die Schluchten.
    Es tut gut, einen Moment alleine zu sein. Der Wind lässt nach. Der Dunst verwandelt sich in Regen. In der Dunkelheit, unter dem Mond, der mittlerweile blutrot leuchtet, haftet der Landschaft etwas Magisches an. Hier ist die Katastrophe des Dammbaus nur noch eine ferne Erinnerung. Der Fluss und die hohen schwarzen Fels wände scheinen für die Ewigkeit gemacht, vor den Launen des Menschen gefeit. Die meisten Orte auf der Welt, die ich kenne, gleich ob städtisch oder ländlich, imposant oder mittelmäßig, haben eines gemein: Sie vermitteln das Gefühl, im großen Plan der Dinge nicht mehr als ein Punkt auf der Landkarte zu sein, Teil einer Topographie, die einem stetigen Wandel unterworfen ist. Doch diese drei Schluchten stehen auf einem anderen Blatt. Der Gedanke, dass diese Landschaft von der Bildfläche verschwinden wird, dass der Jangtse noch vor dem Ende dieses Jahrzehnts gebändigt werden soll, ist unvorstellbar. Selbst jetzt spüre ich, wie sich der Fluss dem Menschen widersetzt, wie er uns mit seiner mächtigen Strömung, die so alt ist wie die Menschheit, in die Richtung zurückdrängt, aus der wir gekommen sind. Ich stelle mir das Plateau im Tibetischen Hochland vor, wo er entspringt, den reinen weißen Schnee Zentralasiens, der schmilzt und den dunklen, schlammigen Fluss speist. Es ist, als wären alle Kräne und Abflussgräben, die unansehnlichen Schutthaufen, gesprengten Granitfelsen, harten Betonmassen und Abermillionen Tonnen Kies nichts als Requisiten auf der gigantischen Bühne, die China im Namen des Nationalstolzes errichtet hat.
    Ich drücke die Blechdose an meine Brust. Es ist zu dunkel, um die Collage anzusehen, doch ich kenne sie in- und auswendig – jedes noch so kleine Detail, jede belanglose Einzelheit. Auf dem

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