Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
die niedrige Wanne. Die Badezimmertür steht einen Spalt offen und ich sehe den kleinen Schreibtisch aus Holz mit dem Bogen Reispapier, auf dem Graham Schriftzeichen gemalt hatte, als ich ihn am zweiten Abend ins Bett holte. Ich war hinter ihn getreten, hatte mich wortlos über seine Schulter gebeugt und als mein Schatten über die Seite fiel, war er erschrocken und seine Hand mit dem Pinsel abgerutscht.
»Was schreibst du da?«, fragte ich.
»Eine Mitteilung an das Zimmermädchen. Mit der Bitte, uns in den nächsten Tagen nicht zu stören.«
»Wie lange bleiben wir hier?«
»Nicht lange.«
Er steckte das Reispapier in einen großen Umschlag. Ich sah, dass er noch andere Dinge enthielt – einen Schlüssel, einen Brief, einen Packen Geldscheine. »Was ist das?«
Er versiegelte den Umschlag und legte ihn sorgfältig in die Mitte des Schreibtisches. »Ein Fluchtplan.«
»Wer flieht? Vor was?«
Er zog mich an sich und küsste meinen Bauch, meine Brüste. Er drehte mich um, hob meine Bluse hoch und küsste jede Handbreit meiner Wirbelsäule. Wir liebten uns zum dritten Mal an diesem Tag. Während er auf dem Stuhl saß, ich rittlings auf ihm, und in das Fenster einer leeren Wohnung auf der gegenüberliegenden Straßenseite blickte, fühlte ich mich mit einem Mal wieder jung – als könnte ich irgendwann alles vergessen, was vorher war.
* * *
Es ist Morgen. Unser dritter Tag in Fengdu. Draußen nieselt es. Die Glühbirne über unserem Bett hat ihren Geist aufgegeben. Alles ist verhangen, klamm.
»Ich brauche deine Hilfe«, sagt er.
Mir stockt der Atem. Nicht jetzt. Das kann doch nicht sein Ernst sein. Ich hatte fast zu glauben begonnen, er würde seine Meinung doch noch ändern.
Aus der Kommodenschublade holt er einen kleinen Plastikbeutel hervor – es ist derselbe, den er von seinem Freund in Shashi bekommen hat. Der Beutel enthält eine Phiole mit einer durchsichtigen Arznei und eine Spritze. Er legt beides behutsam auf den kleinen Holztisch neben dem Bett. Das Glasfläschchen fängt einen Strahl des gedämpften Lichtes ein. »Ich weiß, es ist nicht fair, dich darum zu bitten. Doch du musst mich verstehen.«
»Mich um was zu bitten?«, frage ich, doch ich kenne die Antwort bereits.
Er reiht verschiedene Gegenstände ordentlich nebeneinander auf der zerkratzten Tischplatte auf: Spritze, Phiole, Handtuch, Alkohol, Wattepads. »Ich möchte nicht alleine sein, wenn es so weit ist.« Er blickt mich an. Blickt auf den Grund meiner Seele. »Jenny«, sagt er.
Erst da gestatte ich mir, mir selbst einzugestehen, worum er mich bittet, worauf er mich in den vergangenen Tagen vorbereitet hat. Ich spüre, wie es mir das Herz zerreißt. Ich spüre, wie mir alles entgleitet – der Boden unter den Füßen, die Zeit, alles, was mein Leben zusammenhält.
»Nein«, sage ich. »Das ist verrückt.«
Er sitzt auf der Bettkante, die Finger über den Knien gespreizt. Er blickt zu Boden, wo sich eine winzige schwarze Spinne ihren Weg über den Teppichboden bahnt. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Im Raum ist es glühend heiß.
»Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe.«
»Das steht außer Frage. Ich kann nicht.«
»Liegt dir etwas an mir?«
»Natürlich.«
»Dann schaffst du es, um meinetwillen.«
»Nein.«
»Stell dir vor, wie es ist, wenn man nicht mehr im Stande ist, zu gehen, zu sprechen, zu essen. Oder Liebe zu machen. Und die letzten Monate, wenn man künstlich beatmet werden muss, weil man nicht einmal mehr das kann.«
Ich weine jetzt. Ich kann meinen Tränen, dem Zittern meiner Stimme keinen Einhalt gebieten. »Warum keine Krankenschwester oder Pflegerin? Eine, die sich auskennt?«
»Ich will nicht im Beisein einer Fremden sterben. Ich will bei dir sein.«
Ich denke an Amanda Ruths Asche, die den langen, uralten Fluss zum Meer hinunterdriftet. Ich denke an Grahams Körper, der, auf dem Rücken liegend, vom Fluss getragen wird, gemeinsam mit ihr. »Das ist absurd«, erwidere ich unter Tränen. »Ich bin nach China gekommen, um einer Toten das letzte Geleit zu geben. Und nun verlangst du das von mir?«
»Es gibt Menschen, die innerlich stark sind und solche Dinge tun können. Du gehörst dazu. Das habe ich schon bei unserer ersten Begegnung gespürt. Und ich spüre es jetzt. Es wurde mir in jener Nacht an Deck klar, als du mir Amanda Ruths Geschichte erzähltest.«
»Du täuschst dich.«
Obwohl ich zur Bekräftigung meiner Worte den Kopf schüttle und leugne, denke ich
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