Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
Deck hätte ich gelacht, wenn mir jemand prophezeit hätte, dass ich diesem Mann knapp zwei Wochen später durch die Straßen einer fremden Stadt f olgen würde. Sobald wir das Schiff hinter uns gelassen haben, kommen wir uns vor, als würden wir eine Filmkulisse nach Drehschluss betreten. Nichts regt sich. Alles wirkt wie ausgestorben. Türen stehen sperrangelweit offen und Vorhänge flattern durch die Fenster verwaister Wohnungen. Müll liegt auf den Straßen verstreut. Ein Hund, zum Skelett abgemagert, stöbert im Abfall und schnüffelt an unseren Knöcheln. »Wir haben einen Freund«, sagt Graham. Er nimmt ein Päckchen Dörrfisch aus seinem Seesack und verfüttert es Stück für Stück an den Hund.
Wir gehen eine Meile oder mehr, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Dann sehe ich hinter dem Tor eines Tempels einen alten Mönch, der schläft, eine Kerze an seiner Seite. Zu seinen Füßen liegen gebündelte Räucherstäbchen. Der Sockel, auf dem normalerweise der ge schnitzte Buddha steht, ist nur noch eine leere, mit Flugschriften übersäte Fläche.
Schließlich gelangen wir zu einem Hotel, der Hund läuft hechelnd neben uns her. Kein einziges Auto ist vor dem Gebäude abgestellt, kein einziges Fahrrad. Die Tür ist offen. Ein junges Mädchen sitzt an der Rezeption, trinkt Tee aus einem großen braunen Becher und blättert in einer Zeitschrift. Als sie unsere Schritte hört, blickt sie hoch. »Ni hao« , begrüßt sie uns, ihre Miene spiegelt weder eine Gefühlsregung noch Überraschung wider. Sie sagt etwas und deutet auf den Hund. Graham fordert ihn mit fester Stimme auf, draußen zu bleiben. Der Hund scharrt mit den Pfoten und gehorcht. Graham beginnt ein Gespräch mit dem Mädchen und übersetzt dabei immer wieder für mich. Wie es scheint, wird dieses Hotel, das vor zwanzig Jahren eröffnet wurde, in genau zwei Wochen schließen. Es dient nur noch als Quartier für die Inspektoren, die gelegentlich auftauchen, um zu kontrol lieren, ob die Evakuierungsanweisung für Fengdu befolgt wurde. »Leute, die in ihre früheren Häuser zurückkehren oder ihr ehemaliges Stück Land bearbeiten, werden eingesperrt«, erklärt Graham.
Das Mädchen deutet auf eine Werbebroschüre, die mit Reißzwecken an der Wand hinter der Rezeption angebracht ist. Auf dem Deckblatt ist ein imposantes Hotel zu sehen, das über den Worten schwebt: Wir heißen stolz Gäste im Hotel Tien willkommen, Weltklasse Nummer eins Hotel von China . »Neues Hotel ist auf andere Seite«, sagt das Mädchen in Englisch und deutet in Richtung der neuen Wohnsiedlung, die hoch über dem Flussufer vis à vis aufragt. »Jeder wohnt neue Hotel, sogar Präsident Jiang Xemin.«
Wir zeigen ihr unsere Pässe, füllen mehrere Formulare in dreifacher Ausfertigung aus und zahlen bar für das Zimmer, bevor sie unter den Tresen greift und einen gro ßen Metallschlüssel hervorholt. Er baumelt an einem provisorischen Schlüsselbund, der aus einem gebogenen Drahtbügel besteht. »Sehr vorsichtig sein«, sagt sie und schiebt den Schlüssel über den Tresen. »Fünfzig Dollar, wenn Sie verlieren.«
Graham erhält eine Wegbeschreibung zu unserem Zimmer, bedankt sich bei dem Mädchen und nimmt seinen Seesack. »Komm.« Wir durchqueren die weitläufige Lobby, die mit Ausnahme eines erstaunlich feudalen, dunkelgrünen Polstersessels kein Mobiliar enthält. Am Ende der Lobby gelangen wir an eine Türschwelle ohne Tür. Nur die Scharniere sind erhalten geblieben und rosten unter der abblätternden Farbe. Wir betreten einen langen unbeleuchteten Korridor, an dessen Ende sich ein Fahrstuhl befindet. Ich drücke auf den Knopf, doch nichts tut sich, dann drücke ich abermals und werde mit einem lauten Rattern belohnt. Der Fahrstuhl fährt nach unten, er setzt sich gemächlich in Bewegung, wie ein Spielzeugtier zum Aufziehen, das aus dem Winterschlaf erwacht. Schließlich landet er mit Getöse im Erdgeschoss, doch die Tür geht nicht auf. Ich drücke mehrmals vergeblich den Knopf, dann gehen wir durch den langen Korridor und die Lobby zur Rezeption zurück, wo das Mädchen an seinen Haaren zwirbelt und telefoniert. Der Hund, der immer noch draußen steht, sieht uns und wedelt mit dem Schwanz.
Graham stellt dem Mädchen eine Frage. Sie blickt hoch, zuckt die Schultern und brüllt Graham an, eine volle Minute, dann setzt sie ihr Telefonat in aller Ruhe fort.
»Hier entlang«, sagt er. Ich folge ihm zur Eingangstür hinaus. Eine Frau mittleren Alters steht vor dem Restaurant auf
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