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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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das Wasserreservoir, wo ich seit Jahren jeden Sonntagmorgen mein Lauftraining absolviere. Das Wasser verändert sich mit den Jahreszeiten – ein undurchsichtiges kaltes Grau im Winter, ein glasklares Blau im Frühjahr und im Sommer ein grün liches Weiß, voller Leben, ein Paradies für Flora und Fauna. Der Rundweg umfasst eine Strecke von knapp zwei Meilen und ich kenne jede Kuhle und jede Biegung: Ich weiß, welche Stellen bei Regen matschig werden und wo ich langsamer laufen muss, um den Touristen Platz zu machen, ich weiß, wo ich meinen Blick auf den Boden richten sollte, um nicht in Pferdeäpfel zu treten, und an welcher Kurve ich anhalten und hinaufschauen sollte, um zu sehen, wie die Ahornbäume ihre Farbe wechseln. Dieser Rundweg hat nichts, was mich an die Stadt erinnert, in der ich aufgewachsen bin, er hat nichts, was jemand aus Alabama als verlockend empfinden könnte. Doch wenn ich dort bin, habe ich das Gefühl, nach Hause zurückzukehren, und das Knirschen der Kieselsteine unter meinen Füßen ist tröstlich, vertraut.
    Ich lege meine Arme um Grahams Hals und ziehe ihn an mich. »Ich glaube, ich verstehe. Nur, warum jetzt?«
    »Ich bin immer alleine durchs Leben gegangen«, sagt er und streicht mir das Haar aus der Stirn. »Ich hatte den Entschluss schon vor Monaten gefasst. Ich wollte meine letzten Tage auf dem Fluss verbringen, mit einem ganz besonderen Menschen, doch ich fürchtete, das würde ein Wunsch bleiben. Ich hatte Angst, in einer Klinik zu enden, mit Fremden, kalten weißen Wänden, Kantinenessen und all dem Unfug. Versprich mir, dass du nicht lachst, ja?«
    »Natürlich.«
    »Das ist meine dritte Jangtse-Kreuzfahrt in diesem Jahr. Ich war auf der Suche – ich wusste nur nicht, nach wem. Ich ahnte nicht, dass du es sein würdest. Nun bist du hier und diese letzten Tage waren alles, was sich ein Mensch nur erträumen kann!« Er atmet ein, aus. Eine sanfte Brise rüttelt an der Fensterscheibe. »Stell dir vor, wie dieser Ort in wenigen Monaten aussehen wird. Alles wird in den Schoß des Flusses zurückkehren. Auch ich, und das stimmt mich froh. Es erscheint mir irgendwie – richtig.«
    »Wenn du möchtest, dass ich dir die Schmerzen beschreibe, unter denen ich seit einem Jahr leide, wenn du wirklich wissen willst, wie schlimm es um mich steht und wie sehr sich mein Zustand von Tag zu Tag verschlechtert, dann werde ich dir all die unangenehmen Einzelheiten schildern.«
    Wir liegen eine Weile stumm nebeneinander. Die Entscheidung ist längst gefallen. Ich versuche herauszufinden, wie es so weit kommen konnte. Wie bin ich auf der Umlaufbahn meines Lebens zu diesem Augenblick in Zeit und Raum gelangt – nach China, auf das Bett eines verlassenen Motels, mich an einen sterbenden Mann klammernd?
    »Ich bin froh, dass wir uns begegnet sind«, sage ich. Ich weiß nicht, was ich ihm sonst sagen könnte. Dass nichts, was ich weiß und glaube, mich auf das vorbereitet hat, was mich jetzt erwartet? Worte sind unzulänglich, reichen nicht aus.
    Die Spritze, schimmernd im fahlen Licht. Grahams Finger, der gegen die Seite der Spritze schnippt, sein Daumen, der den Kolben herunterdrückt, der dünne Strahl einer Flüssigkeit, der in hohem Bogen aus der Nadel schießt. Er steht auf und geht ans Fenster, blickt noch einmal auf den Fluss hinab, auf das braune, sich träge vorbeiwindende Band. Er kommt zu mir und legt seine Hände auf meine Schultern. Merkt er, dass mein Körper so angespannt ist, als stünde er unter Strom? Ich stelle mir vor, wie er explo diert, wie eine Stichflamme hochschießt. Ich stelle mir vor, wie das Feuer an den gelben Wänden dieses Raumes emporzüngelt, durch das Fenster springt und um sich greift, das Hotel in Schutt und Asche legt, durch die menschenleeren Straßen rast, glühend wie Lava in den Fluss hinabströmt und dabei alles erfasst, was seinen Weg kreuzt: Schiffe, die wie Feuerwerkskörper explodieren, Rikschas, die wie Streichhölzer zersplittern, streunende Hunde, die winseln, wenn ihr Fell in Flammen aufgeht.
    »Du schaffst das«, sagt er und sieht mir in die Augen. Er umfängt mich mit seinen Armen und vergräbt sein Gesicht in meinem Haar. Ich spüre die Wärme seines Atems auf meiner Kopfhaut. »Du rettest mich.«
    Ich schluchze an seiner Brust, sein Baumwollhemd wird noch feuchter. Langsam knöpfe ich es auf, öffne den Reißverschluss seiner Hose, ziehe ihn auf das Bett hinunter, nehme ihn in mir auf. Dieses Gefühl der wachsenden Fülle, der tiefen, langsam

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