Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)
an Debbie, eine Cousine ersten Grades, die bei einem Autounfall in New Jersey ums Leben kam, in dem Jahr vor meinem College-Abschluss. Wir standen uns nicht besonders nahe. Doch nach dem Unfall war ich diejenige, die ihre Leiche identifizieren musste. Ihr Vater rief aus Georgia an und bat mich darum. Er sagte: »Außer dir fällt uns niemand ein.« Als ich in der kalten Leichenhalle stand und in Debbies starres Gesicht blickte, sagte ich: »Das ist sie.« Ich vergoss keine einzige Träne.
Vor einigen Jahren klopfte meine Nachbarin aus der Wohnung über mir an meine Tür, weil sie eine Ratte in ihrer Badewanne entdeckt hatte, die in der Falle saß. Es war ein Mittwochabend und viele Leute waren um die Zeit zu Hause, doch sie kam zu mir. »Könnten Sie die Ratte töten?«, fragte sie. Ich nahm Daves Baseballschläger vom Schrank, ging nach oben, betrat das Badezimmer meiner Nachbarin und machte die Tür hinter mir zu. Die Ratte war fett und grau. Sie quiekte und versuchte vergebens, sich auf dem glatten Porzellan festzukrallen. Einen Moment lang trafen sich unsere Blicke. Ich schlug fünfmal zu, auf den Kopf. Es war kein Tropfen Blut zu sehen, nichts. Als ich aus dem Badezimmer kam, sagte meine Nachbarin, die in der Diele stand: »Ist sie tot?« Ich nickte. Ich bat um einen Müllbeutel und trug die Ratte nach draußen, auf die schmale Gasse hinter dem Haus. In meine Wohnung zurückgekehrt, wusch ich mir die Hände, ich empfand nur ein überwältigendes Gefühl der Leere.
So war es nicht immer gewesen. Irgendwann nach Amanda Ruths Tod kam eine Stärke in mir zum Vorschein, von der ich nicht gewusst hatte, dass ich sie besaß. Das geschah nicht auf einen Schlag. Es dauerte Monate, sogar Jahre. Für mich war es stets eine Stärke, die mir geliehen vorkam – keine angeborene Eigenschaft, sondern nur eine zeitweilig erworbene, ein Bestandteil der Rolle, die ich notgedrungen spielte. Ich hatte sie mir nicht ausgesucht. Ich hatte nicht darum gebeten, Amanda Ruths Asche an jenem Tag entgegenzunehmen, als ihre Mutter auf meiner Türschwelle erschien, bleich und zitternd. Ich hatte nicht darum gebeten, meine Cousine zu identifizieren oder die Ratte umzubringen. Vor allem hatte ich nicht darum gebeten, Graham auf seiner letzten Reise zu begleiten. Vielleicht besitze ich ein Persönlichkeitsmerkmal, das fälschlicherweise den Eindruck vermittelt, ich sei in der Lage, die unangenehmen, unerwünschten Aufgaben zu übernehmen. Sende ich ein entsprechendes Signal aus, irgendeine vage, beunruhigende Schwingung? Vielleicht sind Dave und ich letztlich doch nicht so grundverschieden, wie ich immer dachte.
* * *
Der Pinsel, in tiefschwarze Tusche getaucht. Graham hält ihn über das Fläschchen, lässt die überschüssige Tusche abtropfen und tupft den Pinsel auf dem gelben Löschpapier ab. Er steht am Fenster, im Dämmerlicht und streckt seinen Arm aus, sucht etwas, berührt mit der Spitze der Borsten die weiche weiße Haut in seiner Ellenbeuge. Ein einziger Punkt, ein perfekter schwarzer Kreis auf der blauen, gut sichtbaren Vene.
Ich starre wie gelähmt die Vene an. Dieses Blau. Es hat etwas Unwirkliches. Ich besitze ein von Hand koloriertes Foto von meiner Mutter als Kind. Ihre Haare sind weizengelb, ihre braunen Augen von einem klaren, erstarrten Bla u – so wie sich der Fotograf in der damaligen Zeit offenbar das Idealbild eines jungen Mädchens vorstellte. Ich habe diese Farbe auch schon woanders gesehen. Es ist das Blau von Amanda Ruths Badeanzug auf meinem Lieblingsfoto von ihr – sie steht, leicht nach vorne gebeugt, im Bug des Bootes, das ihrem Vater gehörte, die Arme über dem Kopf, zum Sprung ins Wasser bereit. Es ist das Blau eines ganz bestimmten Raumes – unseres Raumes – zu einer bestimmten Tageszeit, genau dann, wenn die Sonne hinter den Kiefern verschwand, die in einer langen Reihe das andere Ufer säumten. Und ich sah die Farbe noch woanders.
Graham streckt die Hand aus und berührt mein Haar, wischt mir eine Träne aus dem Gesicht. »Woran denkst du?«
»An einen Häuserblock in New York, wo ich manchmal spazieren gehe. An der 86 . Straße, zwischen Columbus und Amsterdam Avenue. Dort steht ein riesiges Backsteingebäude. Im siebten Stock befindet sich eine Reihe hoher Fenster, die sich über die gesamte Breite des Bauwerks erstrecken. Von der Straße aus kann man nur dieses unglaublich strahlende blaue Licht erkennen. Jedes Mal, wenn ich an dem Gebäude vorüberging, fragte ich mich, was wohl hinter den
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