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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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der anderen Straßenseite und raucht. Sie ruft uns gutmütig etwas zu und Graham antwortet, winkt.
    Der Hund heftet sich an unsere Fersen. Ich bücke mich und tätschele seinen Kopf. »Was hat das Mädchen an der Rezeption gesagt?«
    »Der Fahrstuhl ist seit fünf Jahren defekt.«
    »Warum hat sie das nicht gleich gesagt?«
    Er lacht. »Genau das habe ich sie auch gefragt.«
    Die Außentreppe verläuft an der Rückseite des Hotels. Die Holzstufen, krumm und schief, schwanken so heftig unter unserem Gewicht, dass ich fürchte, die Treppe könne jeden Moment zusammenbrechen.
    Am Eingang zum dritten Stock ist ein Verkaufsautomat aufgestellt, leer bis auf ein Päckchen getrocknete Ingwerstäbchen. Drei Kronleuchter hängen an der niedrigen Decke des Korridors, doch keiner spendet Licht. Die Türen der Zimmer haben keine Nummern. Graham lässt den Rest Dörrfisch auf dem Boden neben dem Verkaufsautomaten liegen und der Hund, der uns gefolgt ist, nimmt Platz, um ihn bis auf den letzten Krümel zu verspeisen. Wir versuchen jede Tür zu öffnen, eine nach der anderen. Bei der sechsten passt unser Schlüssel. Als wir das Licht einschalten, huscht eine Kakerlake über den fadenscheinigen Teppichboden. Der Raum ist sauber und spartanisch möb liert. Er enthält zwei Lampen mit gelben Schirmen, zwei schmale Betten, eine Frisierkommode, einen Holztisch mit dünnen Beinen, einen Schreibtisch und einen Stuhl. Auf der Tischplatte befinden sich zwei Teebeutel und eine glänzende silberne Thermoskanne, die mit kochend heißem Wasser gefüllt ist, jedoch keine Tassen. Auf der Kommode steht ein rotes Telefon mit Wählscheibe. Eine einzelne nackte Glühbirne hängt an einem Stück Draht über einem der beiden Betten.
    Graham steht am Fußende. »Wir können sie zusammenschieben.«
    Ich drücke seine Hand. »Oder uns in einem zusammenkuscheln.« Ich schlage die Decken der beiden Betten zurück, doch es stellt sich heraus, dass nur eines bezogen ist. »Sieger«, sage ich, beinahe scheu, wie eine frisch gebackene Ehefrau in den Flitterwochen.

26
    In Fengdu nimmt die Zeit traumähnliche Eigenschaften an, sie verläuft so willkürlich wie ein Nebenfluss an der Stelle, an der er in den mächtigen Jangtse mündet, vorwärts drängend und verweilend, sich auf unvorhergesehene Weise verschiebend. Die elf Tage und zwölf Nächte, in denen wir flussaufwärts gefahren sind, muten nun wie eine ferne Vergangenheit an. Gestern hörte ich vom Zimmer unseres kleinen Hotels, das sich hoch über der Stadt erhebt, das leise Signal des Horns, das die Passagiere an Bord rief. Die Red Victoria sollte laut Plan um Punkt 16:15 ablegen, doch eine Stunde später lag sie immer noch am Kai vor Anker, mit heruntergelassenem Fallreep. Kurz vor Sonnenuntergang hörte ich die Trossen quietschen, die Gloc ke läuten und den alten Motor dröhnend anspringen. Gleich darauf verließ das Schiff, auf dem sich mein Mann befand, den Kai, eine Schlammspur im Schlepptau.
    Heute Morgen gingen Graham und ich auf die andere Straßenseite, um zu frühstücken. Das Restaurant bestand aus einem dunklen Raum mit drei Metalltischen und sechs Stühlen. Die Frau erklärte uns, das Restaurant müsse laut Anweisung geöffnet bleiben, um die wenigen Arbeiter, die im Hotel einquartiert sind, und die gelegentlich auftauchenden Inspektoren zu verköstigen. Ein Buddha von der Größe eines Marmeladenglases hing an einer goldenen Schnur über der Türschwelle. Wir aßen beide einen Teller flache dampfende Nudeln mit kleinen würzigen Schweinefleischstücken und tranken dazu eine Kanne schwachen Tee. Die gezackten grünen Teeblätter schwammen in unseren Porzellantassen. Einmal sah ich hoch und bemerkte einen Teeblattkrümel an Grahams Lippe, ich reichte hinüber und wischte ihn mit meiner Serviette weg. Er fing meine Hand, führte sie an seine Lippen und küsste jede einzelne Fingerspitze. Die Frau beobachtete uns von der Türschwelle, wo sie stand und rauchte, genau wie am Vortag. Sie formte ihre Lippen zu einem formvollendeten O und stieß einen Rauchkringel aus, der himmelwärts wehte.
    In unser Zimmer zurückgekehrt, ziehen wir uns bis auf die Unterwäsche aus. Die hohe Luftfeuchtigkeit und die Hitze sind stärker als jeder Hauch von Befangenheit, den wir im Beisein des anderen noch verspüren mochten.
    Sich am Vorabend zum ersten Mal voreinander zu entkleiden war schwieriger gewesen: Wir hatten beide angestrengt in die andere Richtung geschaut, als Baumwoll materialien über Schultern und

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