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Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Im blauen Licht der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Richmond
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Schenkel glitten. Das Geheimnisvolle der dunklen Höhle auf dem Lu Shan Berg und die Spontaneität der Racketball-Halle fehlten. Gestern Abend, als wir uns allein in diesem Raum befanden, dessen Zweck so klar und unmissverständlich war, fühlten wir uns plötzlich befangen. Er hatte seine Socken und Schuhe ausgezogen, sie in den Schrank gestellt und die Tür geschlossen. Dann war er ins Bad gegangen und ich hatte das Wasser in der Wanne plätschern gehört, als er sich die Füße wusch. Heute Morgen waren wir indes wie ein verheiratetes Paar aufgewacht, hatten uns umgedreht und geküsst, noch vor dem Zähneputzen.
    »Guten Morgen«, hatte ich gesagt.
    »Hungrig?«
    »Kurz vor dem Verhungern.«
    Als ich nackt zum Fenster gegangen war, um die Vorhänge zu öffnen, hatte ich mich weder der Rundung meines Bauches noch der Unvollkommenheiten meiner Ober schenkel geschämt. Die Befangenheit des Vorabends schien einer längst vergangenen Zeit anzugehören. Zurück in unserem Zimmer sieht Graham mich an.
    Ich strecke die Hand aus und berühre die wenigen grauen Haare auf seiner Brust, direkt über dem Brustbein. Er legt seine Hand auf mein Kreuz und führt mich zum Bett. Er rückt mich zurecht wie der Künstler sein Modell, bis ich eine Pose einnehme, die ihm gefällt: die Knie leicht zur Seite geneigt, die Arme über dem Kopf ausgestreckt.
    »Wenn ich dich nur malen könnte«, sagt er. »Doch da mir leider das Talent fehlt, wird ein Polaroid-Foto genügen müssen.« Er nimmt seine eckige schwarze Kamera vom Tisch und macht eine Aufnahme nach der anderen, wobei der Apparat klickt und summt. Er staunt angesichts der Biegsamkeit seiner Finger, als er immer wieder auf den schwarzen Auslöser drückte, und der Kontrolle, die er über seine Hände besaß.
    »Seltsam«, sagt er. »Ich sehe plötzlich alles ganz klar. Hast du schon einmal von dem chinesischen Dichter Tong Sing gehört?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Im Alter litt er unter Gicht, und zwar so schlimm, dass seine Hände wie Klauen gekrümmt waren. Es heißt, kurz vor seinem Tod seien seine Gliedmaßen wie durch ein Wunder wieder biegsam geworden.« Graham hält die Hände gegen das Licht, als sei ihm ebenfalls ein Wunder widerfahren. Sie zittern nicht. Er kommt zu meiner Seite des Betts und kniet sich neben mich. Sanft schiebt er meine Beine auseinander, öffnet sie, dann küsst er die Innenseite meines Schenkels. Während seine Lippen über meine Haut gleiten, spüre ich, wie sich ein Knoten in mir löst, eine lang gehegte Trauer. Ich lege meine Hand auf seinen Nacken, spüre die Zähigkeit seiner Haut, den obersten Knorpel seiner Wirbelsäule, der wie ein winziger Stein unter seiner Schädeldecke liegt.
    * * *
    Mit dem Gesicht zur Decke auf dem Bett liegend, hebt Graham sein Bein und stößt die nackte Glühbirne mit dem Fuß an. Sie kreist über uns, ihr blasser Schein erhellt Flecken und Risse an den Wänden, deren Tapete verschlissen wirkt. Er folgt dem Lichtschweif mit den Augen, tippt mit dem Finger gegen seine Brust.
    » Tien bedeutet Himmel. Wir sind im Hotel Himmel, im Paradies auf Erden. Habe ich jemals erwähnt, dass ich als kleiner Junge Zeitungen austrug?« Er dreht sich zu mir um. »Das war in Perth. Ich war damals sieben. Ich fuhr mit einem roten Fahrrad, das viel zu klein für mich war, von Haus zu Haus. Die Zeitungen waren in einem Metallkorb an der Lenkstange, zwischen den Handgriffen verstaut.«
    Ich versuche mir Graham mit sieben vorzustellen, das dichte, raue Haar, das ein wesentlich jüngeres Gesicht umrahmt. Ich versuche ihn mir als kleinen Jungen vorzustellen, ohne Schmerzen, wie er mit Leichtigkeit eine Zeitung aus dem Korb nahm und sie mit einem Schnippen des Handgelenks auf eine menschenleere Veranda warf. Ich stelle mir seine Knie vor, die über die Lenkstange hochschnellen, während seine Füße kräftig in die Pedale treten. Seine Beine müssen schon damals lang gewesen sein. Erst seit ich ihn ausgezogen in diesem Raum sah, ist mir bewusst, dass seine Beine in keinem Verhältnis zum Rest seines Körpers stehen, dass er, gemessen an ihrer Länge, größer sein müsste.
    * * *
    Im Badezimmer gibt es eine Wanne, jedoch kein Waschbecken. Die Glühbirnen über einem rechteckigen Spiegel flackern. Eine lauwarme braune Brühe sprudelt aus dem Wasserhahn, einer schlichten Muffe aus Kupfer mit einem Rostring am Rand. Ich lasse das Wasser ein paar Minuten laufen, bis es so hell wie Bernstein wird, dann stöpsele ich den Abfluss zu und steige in

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