Im Blut vereint
hatte wenig gegen ihre Mattigkeit ausgerichtet. Kate hatte sich kaum auf den Fall
TransTissue
konzentrieren können. Sie hatte sich zwingen müssen, die Fakten trotzdem durchzugehen und ein Memo zu schreiben, das John Lyons hoffentlich beeindrucken würde. Jetzt forderte die Anstrengung ihren Tribut: Es war Montagmorgen, 6:21 Uhr, und sie war bereits vollkommen erschöpft.
In weniger als zwei Stunden musste sie bei LMB erscheinen und beweisen, dass sie als Anwältin genauso viel – oder noch mehr – auf dem Kasten hatte als die anderen neu eingestellten Mitarbeiter. Bei der Vorstellung wurde ihr Zorn über Ethans unangemeldeten Besuch noch größer. Er hatte sie vom größten Fall ihrer Karriere abgelenkt. Er hatte Gefühle wachgerufen, mit denen sie nichts mehr zu tun haben wollte.
Und dabei würde er es nicht bewenden lassen. Das hatte sie ihm angesehen, auch wenn er angeblich nur vorbeigekommen war, damit sie ihm endlich seine Fragen beantwortete. Er wollte mehr. Er wollte sie für das büßen lassen, was am Silvesterabend geschehen war. Ihre Füße hämmerten jetzt unerbittlich schnell auf den Weg. Wie oft waren sie gemeinsam joggen gewesen, ihre Schritte in völligem Einklang. Ethan lief ebenso gern wie sie. Kate war es gewohnt gewesen, allein zu joggen und dabei ihren Gedanken nachzuhängen, doch Ethan dabeizuhaben, hatte ihr gefallen. Beim Laufen hatte sie oft an die Nacht davor gedacht. An seine verführerischen, fast ehrfürchtigen Berührungen. Wenn sie an seiner Seite lief, spürte sie eine große Kraft in sich.
Wie hätte sie einen dieser märchenhaften Momente mit schmutzigen Details über ihre Vergangenheit verderben sollen? Für sie war die Vergangenheit etwas, das man ganz tief in einem dunklen Verschlag wegsperrte. Wenn man darüber redete, wurde es wieder real.
Es hatte sie erschreckt und ihr Angst eingejagt, als sie sich eingestehen musste, was sie dem Mann angetan hatte, den sie so sehr liebte. Für Ethan gab es im Leben nur Schwarz und Weiß. Kate dagegen fand, dass nur der Tod schwarz-weiß war. Alles andere lag irgendwo dazwischen.
Im blassen Licht des frühen Morgens zeichnete sich das Seemannsdenkmal – ein schwerer Anker – dunkel vor dem nur wenig helleren Wasser ab. Alaska rannte um das Denkmal herum und stürmte dann quer über die ausgedehnte Wiese auf das alte Steinfort zu. Diese Festung hatte zwei Weltkriege hindurch zu den wichtigsten Verteidigungsanlagen von Halifax gehört. Jetzt verfiel sie und wurde von Gras überwuchert, strahlte aber immer noch eine ernste Würde aus, ein Denkmal für lang überstandene Schrecken.
Die Festungsmauern bröckelten. Genau wie die inneren Mauern, die Kate als Erwachsene um ihr Herz errichtet hatte. Sie waren dünn geworden, durchlässig, leicht zu durchbrechen. Das lag nicht nur an Ethan, auch wenn er die Mauern am Freitag ziemlich gründlich beschossen hatte. Die erste Bresche war schon früher geschlagen worden. Als Kate erkannt hatte, dass sie der Vergangenheit nie entkommen würde. Als sie auf den Kalender geschaut und gesehen hatte, dass der Tag näher rückte.
Der fünfzehnte Todestag ihrer Schwester. Es verlieh ihrem Leben etwas Symmetrisches. Fünfzehn Jahre lang hatte sie eine liebevolle Schwester an ihrer Seite gehabt, und fünfzehn Jahre lang hatte sie anschließend mit dem Wissen gelebt, dass sie den Menschen umgebracht hatte, der sie am meisten geliebt hatte.
Ein feuchter, kalter Wind strich über ihre Wangen und weckte sie aus ihren Gedanken. Kate blickte zum Horizont. Wie erwartet kroch dort unter der aufgehenden Sonne eine Nebelbank heran. Der dunkle Saum von Tannen auf MacNab’s Island begann schon zu verschwimmen. Innerhalb der nächsten Stunde würde sich die Nebelbank über die Wasserfläche ausbreiten, die Seezeichen verhüllen und die tückischen Untiefen vor der Südspitze des Parks unsichtbar machen, wo immer wieder Yachten auf Grund liefen. Das Tuten der Nebelhörner würde die Luft erfüllen. Normalerweise mochte Kate den Klang: Er war tief und unheimlich, ganz anders als die schrillen Geräusche, die moderne Technik hervorbrachte.
Aber heute war sie froh, dass noch keine Nebelhörner ertönten. Sie wusste auch ohne solche schwermütigen Warnsignale, dass sich der Nebel ihrer Kindheit wieder über sie legte. Dass ihr bei jedem Schritt der Geist ihrer Schwester folgte.
Imogen ließ sich nicht abschütteln. Und nun verfolgte Kate auch noch das Gefühl, dass sie ein anderes fünfzehnjähriges Mädchen ebenfalls
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