Im Bus ganz hinten
doch immer gewollt, dass Erich zu unserer Familie gehört. Außerdem hatte er ihr doch dabei geholfen, den Laden aufzubauen! Von null auf hundert kochte ich vor Wut. Ich konnte mich bestens in Erich hineinversetzen, ich wusste, wie es sich anfühlte, von meiner Mutter im Stich gelassen zu werden. Ich legte auf, zog meine Jacke an und lief los, so schnell ich konnte. Ich wollte mit meiner Mutter Klartext reden. Schon durch das Fenster ihres Salons sah sie mich kommen. Sie massierte gerade das Gesicht einer Kundin, aber das war mir egal, ich riss die Tür auf und schrie: »Warum trennst du dich von meinem Vater, ohne mir etwas zu sagen? Wieso benimmst du dich wie ein Schlampe?« Wow, das war wohl das erste Mal, dass ich Erich »meinen Vater« genannt hatte. Jetzt, wo es zu spät war. Peinlich berührt, kam meine Mutter auf mich zu und versuchte mich zu beruhigen: »Wir klären das später. Ich kann gerade nicht«, flüsterte sie.
»Nein, wir reden jetzt!«, schrie ich, woraufhin mich meine Mutter einfach in Richtung Ausgang schubste. Sie drückte mich aus der Tür und schloss hinter mir ab. Ich verlor die Fassung und trat gegen die Glastür, die sofort in tausend kleine Teile zersprang. Die Scherben bohrten sich in meine Wade. Ich sah zwar, wie das Blut meine Jeans verfärbte, aber wirklich schlimm war nur der Schmerz in mir drin. Der Frisör aus dem Laden nebenan lief erschrocken auf die Straße und beobachtete, wie ich mein verletztes Bein aus der Scheibe zog.
Dann verpisste ich mich.
Einige Tage später flatterte ein Brief mit einem Stempel vom Amtsgericht in mein Postfach in der Kriseneinrichtung. Ich öffnete den Umschlag und traute meinen Augen kaum: Es war eine Anzeige wegen Sachbeschädigung und Bedrohung. Meine eigene Mutter hatte mich tatsächlich bei den Bullen verpfiffen. Als ich schließlich zum Gericht bestellt wurde, lehnte ich jede Hilfe ab und wollte auch keinen eigenen Anwalt. Für mich war das eine Sache zwischen mir und meiner Mutter. Aber die erschien noch nicht einmal zum Prozess. Nur ihre Anwältin quatschte mich voll. Ich war fassungslos: Was wollte diese Frau mir bitte von meiner Familie erzählen? Ich sagte kaum etwas, und am Ende brummte mir der Richter 48 Stunden Gefangenschaft im Jugendarrest auf. Die viel größere Strafe war aber, dass die Beziehung zu meiner Mutter nun endgültig im Arsch war.
Hinter schwedischen Gardinen
Ein paar Tage später bekam ich einen Brief von der Staatsanwaltschaft.
»Ladung zum Arrestantritt«, las ich in der Betreffzeile.
»Sehr geehrter Herr Losensky, bitte finden Sie sich am Freitag, den 28. September, um 9.00 Uhr in der Jugendarrestanstalt Berlin-Lichtenrade, Luetzowstraße 45, ein.« Ich fluchte: »Och nö! Jetzt werde ich in eine Zelle gesperrt – und das nur wegen dem Streit mit meiner Mutter?« Ich war sauer und warf den Brief in eine Ecke.
»Scheiße, und das auch noch genau an Anis’ Geburtstag!« Wir hatten mit Meister Amrouche und dem ganzen Betrieb feiern wollen, aber die Party konnte ich auf jeden Fall knicken. Es half aber nichts – ich musste die Strafe absitzen.
Kurze Zeit später war es dann so weit. Am Abend zuvor packte ich ein T-Shirt, eine Hose und eine Unterhose in eine Tasche, dazu noch meine Waschtasche mit einer Zahnbürste, Zahnpasta und Deo. Ich kannte etliche Leute, die schon mal in so einem Jugendarrest gesessen hatten. Sie beruhigten mich im Vorfeld und versicherten mir, dass es dort nicht wirklich schlimm sei – eher ein bisschen langweilig. Trotzdem lag ich in der Nacht unruhig in meinem Kriseneinrichtungsbett. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere, und wenn ich mal kurz einnickte, hatte ich schlimme Albträume. Ich sah mich im Knast sitzen – in einer feuchten Kellerzelle bei Wasser und Brot, und zwar für immer. Es war fast schon eine Erlösung, als der Wecker um sechs Uhr dann endlich klingelte – auch wenn mich das mulmige Gefühl in der Magengegend noch den ganzen Vormittag begleiten sollte.
Mit dem 175er fuhr ich bis zur Horstwaldstraße. Ich saß natürlich wie immer ganz hinten, aber trotzdem wuchs meine Nervosität. Zur Ablenkung nahm ich meinen Edding zur Hand und taggte ein bisschen rum. Erst am Fenster, dann bekritzelte ich den Ledersitz vor mir. Von Weitem sah ich schon die Anstalt. Sie sah nicht ganz so bedrohlich aus wie der richtige Jugendknast gegenüber, in den nur die ganz harten Fälle kamen. Aber wirklich einladend wirkte das Gebäude, in dem ich die nächsten 48 Stunden verbringen
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