Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
Vom Netzwerk:
Mal in einer Kladde des Reviers im Viertel Saint-Georges von vor sieben Jahren, ein zweites Mal, ein paar Monate später, in einer Kladde der Grandes-Carrières. Grund: Herumstreunen einer Minderjährigen.
    Ich habe Leoni gefragt, ob es bei den Hotels etwas gibt. Vor zwei Jahren hat Delanque Jacqueline im Hotel San Remo gewohnt, Rue d’Armaillé Nr. 8 (17. Arr.) und im Hotel Métropole, Rue de l’Étoile Nr. 13 (17. Arr.). In den Kladden von Saint-Georges und Les Grandes-Carrières steht, sie lebe bei ihrer Mutter, Avenue Rachel Nr. 10 (18. Arrondissement).
    Zur Zeit wohnt sie im Hotel Savoie, Rue Cels Nr. 8, im 14. Arrondissement. Ihre Mutter ist vor vier Jahren gestorben. In ihrer Geburtsurkunde, die auf dem Standesamt von Fontaines-en-Sologne (Loir-et-Cher) ausgestellt wurde und von der ich eine Kopie beifüge, steht, der Vater sei unbekannt. Ihre Mutter war als Platzanweiserin im Moulin-Rouge beschäftigt und hatte einen Freund, einen gewissen Guy Lavigne, der in der Autowerkstatt La Fontaine arbeitete, Rue La Fontaine Nr. 98 (16. Arr.), und sie finanziell unterstützte. Jacqueline Delanque scheint keiner regelmäßigen Arbeit nachzugehen.
    So, mein lieber Caisley, das ist alles, was ich für Sie zusammengetragen habe. Ich hoffe, Sie demnächst zu sehen, allerdings nicht in meiner Arbeitskluft. Blémant hätte sehr gelacht über diese Clochard-Verkleidung. Sie ein bisschen weniger, nehme ich an. Und ich überhaupt nicht.
    Alles Gute
    Bernolle
    Ich musste also nur mehr Jean-Pierre Choureau anrufen und ihm sagen, das Rätsel sei gelöst. Ich versuche mich zu erinnern, wann genau ich beschlossen habe, nichts dergleichen zu tun. Ich hatte die ersten Ziffern seiner Nummer bereits gewählt und dann plötzlich aufgelegt. Mir war die Vorstellung unerträglich, wie beim letzten Mal an einem späten Nachmittag in diese Erdgeschosswohnung von Neuilly zurückzukehren und neben ihm unter der Lampe mit dem roten Schirm zu warten, bis es Nacht wird. Ich habe den alten Taride-Plan von Paris auseinandergefaltet, der immer auf meinem Schreibtisch liegt, in Reichweite. Beim vielen Benutzen habe ich ihn oft an den Rändern eingerissen, und jedesmal klebte ich Tesafilm über den Riss, so wie man einen Verletzten verbindet. Le Condé. Neuilly. Das Viertel um die Place de l’Étoile. Die Avenue Rachel. Zum ersten Mal in meinem Berufsleben spürte ich das Bedürfnis, während meiner Ermittlungen gegen den Strom zu schwimmen. Ja, in umgekehrter Richtung legte ich den Weg zurück, den Jacqueline Delanque gegangen war. Jean-Pierre Choureau zählte nicht mehr. Er war nur ein Statist gewesen, und ich sah ihn, eine schwarze Aktenmappe in der Hand, für immer in Richtung seines Büros bei Zannetacci entschwinden. Im Grunde war die einzige interessante Person Jacqueline Delanque. Es hatte viele Jacquelines gegeben in meinem Leben … Sie würde die letzte sein. Ich habe die Metro genommen, die Nord-Süd-Linie, wie man so sagte, denn sie verband die Avenue Rachel mit dem Condé. Während die verschiedenen Stationen an mir vorbeiflogen, fuhr ich zurück in der Zeit. In Pigalle bin ich ausgestiegen. Und hier schlenderte ich leichten Schrittes über den breiten Mittelstreifen des Boulevards. Ein sonniger Herbstnachmittag, an dem man gern Zukunftspläne geschmiedet hätte und an dem das Leben wieder bei Null hätte anfangen können. Schließlich hatte ja auch hier, in dieser Zone, das Leben dieser Jacqueline Delanque begonnen … Mir war, als hätte ich eine Verabredung mit ihr. An der Place Blanche angekommen, klopfte mein Herz ein wenig, und ich war aufgeregt und sogar eingeschüchtert. Das war mir schon lange nicht mehr passiert. Ich ging weiter auf dem Mittelstreifen, mit immer schnellerem Schritt. Ich hätte mit geschlossenen Augen durch dieses vertraute Viertel laufen können: das Moulin-Rouge, der Sanglier Bleu … Wer weiß? Vielleicht war ich dieser Jacqueline Delanque vor langer Zeit begegnet, auf der rechten Straßenseite, wenn sie ihre Mutter im Moulin-Rouge besuchte, oder auf der linken, wenn im Lycée Jules-Ferry der Unterricht endete. Nun war ich da. Ich hatte das Kino an der Straßenecke vergessen. Es hieß Le Mexico und trug diesen Namen nicht zufällig. Man bekam Lust auf Reisen, auf Weglaufen und Flucht … Ich hatte auch die Stille vergessen und die Ruhe in der Avenue Rachel, die hinaufführt zum Friedhof, aber man denkt hier nicht an den Friedhof, man sagt sich, ganz am Ende werde ich auf freies Land stoßen und mit ein

Weitere Kostenlose Bücher