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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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bisschen Glück sogar auf einen Spazierweg am Meer.
    Vor der Nummer 10 bin ich stehengeblieben, und nach kurzem Zögern habe ich das Haus betreten. Ich wollte an die Glastür des Concierge klopfen, dann habe ich es gelassen. Wozu auch? Auf einem kleinen Schild, das an einer der Türscheiben klebte, standen in schwarzen Buchstaben die Namen der Mieter und das jeweilige Stockwerk. Aus der Innentasche des Jacketts zog ich mein Heftchen und meinen Kugelschreiber und notierte mir die Namen:
    Deyrlord (Christiane)
    Dix (Gisèle)
    Dupuy (Marthe)
    Esnault (Yvette)
    Gravier (Alice)
    Manoury (Albine)
    Mariska
    Van Bosterhaudt (Huguette)
    Zazani (Odette)
    Der Name Delanque (Geneviève) war ausgestrichen und durch Van Bosterhaudt (Huguette) ersetzt. Mutter und Tochter hatten im fünften Stock gewohnt. Doch als ich das Heftchen zuklappte, wusste ich, dass mir all diese Einzelheiten nicht weiterhelfen würden.
    Draußen, vor dem Erdgeschoss, stand ein Mann in der Tür eines Stoffladens mit dem Firmenschild »La Licorne«. Als ich zum fünften Stock hinaufschaute, hörte ich ihn mit piepsiger Stimme sagen:
    »Suchen Sie etwas, Monsieur?«
    Ich hätte ihn nach Geneviève und Jacqueline Delanque fragen sollen, ich wusste jedoch, was er geantwortet hätte, nichts als Belanglosigkeiten, kleine Details der »Oberfläche«, wie Blémant zu sagen pflegte, ohne jemals in die Tiefe der Dinge vorzudringen. Es genügte mir, seine piepsige Stimme zu hören und seinen Marderkopf zu sehen und seinen harten Blick: Nein, von ihm war nichts zu erhoffen, außer den »Informationen«, die jeder Denunziant geben könnte. Oder er würde mir sagen, er kenne weder Geneviève noch Jacqueline Delanque. Kalter Zorn stieg in mir hoch gegen diesen Kerl mit dem Wieselgesicht. Vielleicht war er für mich plötzlich das Inbild all dieser vorgeblichen Zeugen, die ich während meiner Ermittlungen befragt hatte und die von dem Gesehenen nie irgendwas begriffen hatten, aus Dummheit, Bosheit oder Gleichgültigkeit. Mit schwerem Schritt bin ich losgestapft und habe mich vor ihm aufgepflanzt. Ich überragte ihn um gut zwanzig Zentimeter und wog doppelt so viel wie er.
    »Darf man sich keine Hausfassaden mehr anschauen?«
    Mit seinen harten und furchtsamen Augen starrte er mich an. Ich hätte ihm gerne noch mehr Angst eingejagt.
    Um mich zu beruhigen, habe ich mich dann am Boulevard auf eine Bank gesetzt, da, wo die Avenue Rachel beginnt, gegenüber dem Kino Le Mexico. Ich habe mir den linken Schuh ausgezogen.
    Sonne. Ich war in meine Gedanken versunken. Jacqueline Delanque konnte auf meine Verschwiegenheit zählen, Choureau würde nie etwas erfahren vom Hotel Savoie, vom Condé, der Autowerkstatt La Fontaine und dem besagten Roland, wahrscheinlich der im Heft erwähnte Brünette in der Wildlederjacke. »Louki. Montag 12. Februar 23 Uhr. Louki 28. April 14 Uhr. Louki mit dem Brünetten in der Wildlederjacke.« Über die Seiten hinweg hatte ich in dem Heft ihren Namen jedesmal blau unterstrichen und, auf losen Blättern, alle sie betreffenden Eintragungen abgeschrieben. Mit Datum. Und Uhrzeit. Aber sie musste sich keine Sorgen machen. Ich würde nicht mehr ins Condé gehen. Wirklich, ich hatte Glück gehabt die zwei-, dreimal, als ich an einem der Tische des Cafés auf sie wartete und sie nicht kam an diesem Tag. Es wäre mir peinlich gewesen, sie aus dem Hinterhalt zu beobachten, ja, ich hätte mich meiner Rolle geschämt. Mit welchem Recht brechen wir in das Leben anderer ein, und was für eine Anmaßung, sie auf Herz und Nieren zu prüfen … – und von ihnen Rechenschaft zu verlangen … Aus welchem Grund? Ich hatte meine Socke ausgezogen und massierte mir den Rist. Der Schmerz ließ nach. Es wurde Abend. Früher einmal war das die Zeit, um die Geneviève Delanque zur Arbeit ging, ins Moulin-Rouge. Ihre Tochter blieb allein, im fünften Stock. Mit etwa dreizehn, vierzehn war sie eines Abends, nach dem Aufbruch ihrer Mutter, aus dem Haus geschlichen und hatte gut achtgegeben, nicht die Aufmerksamkeit des Concierge zu erregen. Draußen war sie nicht weiter gegangen als bis zur Straßenecke. Sie hatte sich in der ersten Zeit mit der Zehnuhrvorstellung im Kino Le Mexico begnügt. Dann, zurück ins Haus, die Treppe hoch, ohne Licht zu machen, und die Tür so leise wie möglich zugezogen. Eines Nachts, nach dem Kino, war sie ein Stückchen weiter gelaufen, bis zur Place Blanche. Und jede Nacht ein Stückchen weiter. Herumstreunen einer Minderjährigen, wie es in den

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