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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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spöttisches Lächeln, dasselbe wie kurz zuvor, als ich ihr erklärt hatte, was »die ersten Steigungen« bedeutete.
    Ich habe Erinnerungslücken. Oder vielmehr, gewisse Einzelheiten kommen mir völlig durcheinander wieder in den Sinn. Fünf Jahre lang wollte ich an all das nicht denken. Und dann hat es gereicht, dass dieses Taxi die Straße hinauffährt und ich die Leuchtreklamen wiedersehe – Aux Noctambules, Aux Pierrots … Ich weiß nicht mehr, wie das Lokal in der Rue de La Rochefoucauld hieß. Le Rouge Cloître? Chez Dante? Le Canter? Ja, Le Canter. Kein Gast des Condé wäre ins Canter gegangen. Es gibt unüberwindliche Grenzen im Leben. Und doch war ich sehr überrascht, die ersten Male im Condé, einen Gast wiederzuerkennen, den ich im Canter gesehen hatte, jenen Typen, der Maurice Raphaël heißt und von allen Jaguar genannt wird … Ich konnte wahrhaftig nicht erraten, dass dieser Mann Schriftsteller war … Nichts unterschied ihn von den anderen, die Karten spielten oder sonst etwas, in dem kleinen Hinterzimmer, jenseits des schmiedeeisernen Gitters … Ich habe ihn wiedererkannt. Mein Gesicht hingegen, das spürte ich, erinnerte ihn an nichts. Umso besser. Was für eine Erleichterung …
    Ich habe nie verstanden, welche Rolle Jeannette Gaul im Canter spielte. Häufig nahm sie Bestellungen entgegen und bediente die Gäste. Sie setzte sich zu ihnen an den Tisch. Sie kannte die meisten von ihnen. Sie hat mir auch einen großen Brünetten mit orientalischen Zügen vorgestellt, der sehr gut gekleidet war und studiert zu haben schien, ein gewisser Accad, Sohn eines Arztes aus dem Viertel. Er war stets in Begleitung zweier Freunde, Godinger und Mario Bay. Manchmal spielten sie Karten oder sonst etwas, mit älteren Männern, in dem kleinen Hinterzimmer. Es dauerte immer bis fünf Uhr morgens. Einer dieser Spieler war offenbar der eigentliche Besitzer des Canter. Ein Mann um die Fünfzig mit kurzem grauen Haar, auch er sehr gut gekleidet, ein strenges Gesicht, und Jeannette hatte mir gesagt, er sei »ehemaliger Anwalt«. Ich erinnere mich an seinen Namen: Mocellini. Von Zeit zu Zeit stand er auf und ging zu Suzanne hinter die Bar. In manchen Nächten vertrat er sie auch und servierte eigenhändig die Getränke, als wäre er bei sich zu Hause und alle Kunden seine privaten Gäste. Er nannte Jeannette »Kleines« oder »Totenkopf«, ohne dass ich verstanden hätte warum, und als ich die ersten Male ins Canter kam, betrachtete er mich mit einem gewissen Misstrauen. Eines Nachts hat er mich nach meinem Alter gefragt. Ich habe mich älter gemacht, ich habe gesagt »einundzwanzig«. Er musterte mich stirnrunzelnd, er glaubte mir nicht. »Sicher, dass Sie einundzwanzig sind?« Ich wurde immer verlegener und wollte ihm schon mein wahres Alter sagen, doch plötzlich verlor sein Blick alles Strenge. Er lächelte mich an und zuckte die Schultern. »Na gut, dann sagen wir halt, Sie sind einundzwanzig.«
    Jeannette hatte ein Faible für Mario Bay. Er trug eine getönte Brille, aber nicht aus Angeberei. Das Licht tat seinen Augen weh. Zartgliedrige Hände. Anfangs hielt ihn Jeannette für einen Pianisten, einer von denen, sagte sie mir, die in der Salle Gaveau spielen oder in der Salle Pleyel. Er war so um die Dreißig, wie Accad und Godinger. Doch wenn er kein Pianist war, was machte er dann im Leben? Er und Accad waren eng befreundet mit Mocellini. Jeannette zufolge hatten sie mit Mocellini gearbeitet, als der noch Anwalt war. Seither arbeiteten sie noch immer für ihn. Was? In irgendwelchen Gesellschaften, sagte sie. Aber was sollte das heißen: »Gesellschaften«? Im Canter luden sie uns ein an ihren Tisch, und Jeannette behauptete, Accad sei in mich verknallt. Von Anfang an spürte ich, sie hätte gern, dass ich mich mit ihm einließ, vielleicht um ihre Verbindung zu Mario Bay enger zu knüpfen. Ich hatte eher den Eindruck, dass Godinger mich ganz nach seinem Geschmack fand. Er war brünett wie Accad, aber größer. Jeannette kannte ihn weniger gut als die anderen. Offenbar hatte er viel Geld und ein Auto, das er immer vor dem Canter parkte. Er wohnte im Hotel, und oft fuhr er nach Belgien.
    Schwarze Löcher. Und dann blitzen Einzelheiten auf in meinem Gedächtnis, Einzelheiten, so genau, dass sie belanglos sind. Er wohnte im Hotel, und oft fuhr er nach Belgien. Neulich abend habe ich diesen dummen Satz vor mich hin gesagt wie den Refrain eines Wiegenlieds, den man leise im Dunkeln summt, um sich Mut zu machen. Und

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