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Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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sagen sollte, fügte ich noch hinzu: »Ja, ich wohne weiter oben. Hier sind wir bei den ersten Steigungen.« Sie runzelte die Stirn. »Die ersten Steigungen?« Diese zwei Worte machten sie stutzig, aber ihr Lächeln verschwand nicht. Lag es an der Wirkung des Pimm’s Champagner? Meine Schüchternheit war verflogen. Ich habe ihr erklärt, was »die ersten Steigungen« bedeutete, dieser Ausdruck, den ich gelernt hatte wie alle Kinder, die hier im Viertel die Schule besuchten. Am Square de La Trinité beginnen »die ersten Steigungen«. Dann steigt es immer weiter bis zum Château des Brouillards und zum Friedhof Saint-Vincent, bevor es dann hinabgeht ins Hinterland von Clignancourt, ganz im Norden.
    »Was du nicht alles weißt«, hat sie gesagt. Und ihr Lächeln wurde spöttisch. Sie hatte mich plötzlich geduzt, aber das schien mir ganz normal. Sie bestellte bei dieser Suzanne noch zwei Gläser. Ich war Alkohol nicht gewohnt, und ein Glas war schon zuviel für mich. Ich habe aber nicht gewagt, es auszuschlagen. Um schneller damit fertig zu sein, habe ich den Champagner in einem Zug ausgetrunken. Sie beobachtete mich immer noch schweigend.
    »Studierst du?«
    Ich zögerte. Ich hatte immer davon geträumt, Studentin zu sein, wegen des Wortes, das mir elegant vorkam. Dieser Traum hatte sich jedoch als unerreichbar entpuppt an dem Tag, als ich im Lycée Jules-Ferry nicht aufgenommen worden war. Lag es an der Selbstsicherheit, die mir der Champagner verlieh? Ich beugte mich zu ihr, und vielleicht weil ich sie unbedingt überzeugen wollte, rückte ich ihr mit meinem Gesicht ganz nahe:
    »Ja, ich bin Studentin.«
    Bei diesem ersten Mal sind mir die Gäste um uns herum nicht aufgefallen. Völlig anders als im Condé. Wenn ich nicht fürchtete, gewissen Spukgestalten wiederzubegegnen, würde ich gern eines Nachts zurückkehren an diesen Ort, um wirklich zu begreifen, wo ich herkomme. Aber man muss vorsichtig sein. Außerdem könnte ich leicht vor verschlossener Tür stehen. Besitzerwechsel. Das alles war nicht sehr zukunftsreich.
    »Und was studierst du?«
    Sie hatte mich überrumpelt. Aber die Arglosigkeit ihres Blicks ermutigte mich. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich log.
    »Orientalische Sprachen.«
    Sie schien beeindruckt. Sogar später hat sie nie nach irgendwelchen Details über mein Studium der orientalischen Sprachen gefragt, auch nicht, wann ich Unterricht hatte oder wo sich die Hochschule befand. Sie hätte merken müssen, dass ich keinerlei Schule besuchte. Aber ich glaube, für sie – und auch für mich – war das eine Art von Adelsprädikat, das ich trug und das einer erbt, ohne dass er etwas dafür tun muss. Den Gästen der Bar in der Rue de La Rochefoucauld stellte sie mich als »die Studentin« vor, und vielleicht erinnert sich dort noch jemand daran.
    In jener Nacht hat sie mich bis nach Hause begleitet. Und ich wollte meinerseits wissen, was sie im Leben so tat. Sie erzählte, sie sei Tänzerin gewesen, habe nach einem Unfall diesen Beruf jedoch aufgeben müssen. Ballettänzerin? Nein, nicht ganz, aber sie habe eine Ausbildung als Ballettänzerin. Heute frage ich mich, ob sie ebensosehr Tänzerin gewesen ist wie ich Studentin? Wir gingen die Rue Fontaine entlang in Richtung Place Blanche. Sie erklärte mir, »im Augenblick« sei sie Geschäftspartnerin dieser Suzanne, eine alte Freundin von ihr und ein wenig ihre »große Schwester«. Sie kümmerten sich alle beide um den Ort, an den sie mich mitgenommen hatte und der auch ein Restaurant war.
    Sie fragte mich, ob ich allein wohnte. Ja, allein mit meiner Mutter. Sie wollte wissen, welchen Beruf meine Mutter ausübte. Ich habe das Wort »Moulin-Rouge« nicht ausgesprochen. Ich habe in schroffem Ton gesagt: »Buchprüferin«. Schließlich hätte meine Mutter genausogut Buchprüferin sein können. Ernst und verschwiegen genug war sie.
    Wir haben uns vor dem Hauseingang verabschiedet. Nur schweren Herzens kehrte ich jede Nacht in diese Wohnung zurück. Ich wusste, früher oder später würde ich sie endgültig verlassen. Ich zählte ungemein auf die Bekanntschaften, die ich machen würde und mit denen meine Einsamkeit ein Ende hätte. Dieses Mädchen war meine erste Bekanntschaft, und vielleicht würde sie mir helfen, das Weite zu suchen.
    »Sehen wir uns morgen?« Meine Frage schien sie zu wundern. Ich hatte sie zu unvermittelt gestellt, ohne meine Unruhe verbergen zu können.
    »Sicher. Wann du willst …«
    Sie schenkte mir ihr zärtliches und

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