Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend

Titel: Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
Vom Netzwerk:
Mocellini, warum bloß nannte er Jeannette Totenkopf? Einzelheiten, die andere verbergen, viel unangenehmere. Ich erinnere mich an einen Nachmittag, einige Jahre später, da hatte mich Jeannette in Neuilly besucht. Das war etwa vierzehn Tage nach meiner Hochzeit mit Jean-Pierre Choureau. Ich habe ihn nie anders nennen können als Jean-Pierre Choureau, wahrscheinlich weil er älter war als ich und mich siezte. Sie hat dreimal geläutet, wie ich es ihr gesagt hatte. Einen Augenblick lang wollte ich nicht aufmachen, aber das war idiotisch, sie kannte meine Telefonnummer und meine Adresse. Sie kam durch die halboffene Tür hereingeschlüpft, und man hätte meinen können, sie schleiche sich heimlich in die Wohnung, wie bei einem Einbruch. Im Wohnzimmer hat sie einen Blick um sich geworfen, auf die weißen Wände, den niedrigen Tisch, den Stapel Zeitschriften, die Lampe mit dem roten Schirm, das Bild von Jean-Pierre Choureaus Mutter, über dem Kanapee. Sie sagte nichts. Sie wiegte nur den Kopf. Sie wollte unbedingt alles besichtigen. Sie schien erstaunt, dass Jean-Pierre Choureau und ich getrennte Schlafzimmer hatten. In meinem Zimmer haben wir uns beide aufs Bett gelegt.
    »Er ist also ein Junge aus guter Familie?« sagte Jeannette. Und brach in Gelächter aus.
    Ich hatte sie seit dem Hotel in der Rue d’Armaillé nicht gesehen. Ihr Lachen bereitete mir Unbehagen. Ich fürchtete, sie könnte mich wieder zurückholen, in die Zeit des Canter. Als sie ein Jahr zuvor in die Rue d’Armaillé gekommen war, um mich zu besuchen, hatte sie mir freilich verkündet, sie habe mit den anderen gebrochen.
    »Ein richtiges Jungmädchenzimmer …«
    Auf der Kommode das Foto von Jean-Pierre Choureau in granatrotem Lederrahmen. Sie ist aufgestanden und hat sich hinuntergebeugt zu dem Rahmen.
    »Ist doch ein ganz hübscher Kerl … Warum habt ihr getrennte Schlafzimmer?«
    Wieder hat sie sich neben mich aufs Bett gelegt. Da habe ich ihr gesagt, es sei mir lieber, sie anderswo zu treffen, nicht hier. Ich fürchtete, sie würde sich in Gegenwart von Jean-Pierre Choureau unwohl fühlen. Und außerdem könnten wir nicht so frei miteinander reden.
    »Hast du Angst, dass ich dich mit den anderen besuchen komme?«
    Sie hat gelacht, aber ihr Lachen war nicht so freimütig wie kurz davor. Es stimmte, ich hatte Angst, sogar in Neuilly, plötzlich Accad zu begegnen. Es wunderte mich, dass er meine Spur nicht gefunden hatte, als ich im Hotel wohnte, in der Rue de l’Étoile und in der Rue d’Armaillé.
    »Mach dir keine Sorgen … Die sind schon lange nicht mehr in Paris … Die sind in Marokko …«
    Sie streichelte mir die Stirn, als wollte sie mich besänftigen.
    »Ich nehme an, du hast deinem Ehemann nichts erzählt von den Partien nach Cabassud …«
    Sie hatte kein bisschen Ironie in ihre Worte gelegt. Im Gegenteil, ihre traurige Stimme verblüffte mich. Es war ihr Freund gewesen, Mario Bay, der Typ mit der getönten Brille und den Pianistenhänden, der diesen Ausdruck »Partie« verwendete, wenn die beiden, Accad und er, uns über Nacht mitnahmen nach Cabassud, ein Landgasthof in der Nähe von Paris.
    »Es ist ruhig hier … Nicht wie in Cabassud … Erinnerst du dich?«
    Einzelheiten, vor denen ich die Augen schließen wollte, wie bei zu grellem Licht. Und doch habe ich neulich, als wir die Freunde von Guy de Vere verließen und ich mit Roland von Montmartre nach Hause ging, die Augen weit offen gehalten. Alles war klarer, schärfer, ein strahlendes Licht, das mich blendete, und am Ende gewöhnte ich mich daran. Eines Nachts im Canter saß ich in genau dem gleichen Licht mit Jeannette am Tisch, in der Nähe des Eingangs. Es war niemand mehr da, außer Mocellini und den anderen, die Karten spielten im Hinterzimmer, jenseits des Gitters. Meine Mutter war sicher schon lange zu Hause. Ich fragte mich, ob sie sich über mein Ausbleiben sorgte. Fast sehnte ich mich zurück nach jener Nacht, als sie mich abgeholt hatte vom Revier der Grandes-Carrières. Jetzt ahnte ich dunkel, dass sie mich nie wieder von irgendwo würde abholen können. Ich war schon zu weit entfernt. Eine Beklemmung überfiel mich, die ich zu unterdrücken suchte und die mir den Atmen nahm. Jeannette kam mit ihrem Gesicht ganz nah an meines heran.
    »Du bist so blass … Geht’s dir nicht gut?«
    Ich wollte sie anlächeln, um sie zu beruhigen, hatte aber das Gefühl, nur eine Grimasse zu schneiden.
    »Nein … Ist nicht schlimm …«
    Seit ich nachts die Wohnung verließ, hatte

Weitere Kostenlose Bücher