Im Café der verlorenen Jugend - Modiano, P: Im Café der verlorenen Jugend
gedreht. Er wartete auf ihre Meinung. Sie hatte ihm erklärt, seit sie im Lycée Jules-Ferry nicht aufgenommen worden sei, misstraue sie allen Schulen. Ich glaube, das hat ihn endgültig überzeugt. Am nächsten Tag im Condé sagte er uns, er habe Schluss gemacht mit der École des Mines.
Oft gingen wir, sie und ich, dieselbe Strecke, wenn wir zurück in ihr Hotel wollten. Das war ein Umweg, aber ans Laufen waren wir gewöhnt. War es wirklich ein Umweg? Nein, wenn ich genau überlege, eine gerade Linie, so scheint es mir, hinein ins Landesinnere. Nachts, auf der Avenue Denfert-Rochereau, waren wir in einer Provinzstadt, wegen der Stille und wegen all der christlichen Hospize, an deren Portalen wir vorüberkamen. Neulich bin ich die von Platanen und hohen Mauern gesäumte Straße entlangspaziert, die den Friedhof Montparnasse in zwei Hälften teilt. Das war auch der Weg zu ihrem Hotel. Ich erinnere mich, dass sie ihn lieber mied, und darum gingen wir über Denfert-Rochereau. Doch in der letzten Zeit hatten wir vor nichts mehr Angst, und wir fanden, diese Straße mitten durch den Friedhof besitze durchaus einen gewissen Reiz, nachts, unter ihrem Blätterdach. Kein Auto fuhr um diese Zeit, und wir begegneten nie irgendwem. Ich hatte vergessen, sie in die Liste der neutralen Zonen aufzunehmen. Sie war eher eine Grenze. Wenn wir ihr Ende erreichten, betraten wir ein Land, in dem wir gegen alles gefeit waren. Letzte Woche bin ich nicht in der Nacht dort gewesen, sondern am späten Nachmittag. Ich war nicht mehr hingekommen seit unseren gemeinsamen Märschen oder meinen Besuchen bei dir im Hotel. Für einen Augenblick hegte ich die Hoffnung, ich würde dich antreffen, jenseits des Friedhofs. Da drüben, das wäre die Ewige Wiederkehr. Die gleiche Bewegung, um an der Rezeption deinen Zimmerschlüssel zu nehmen. Die gleiche steile Treppe. Die gleiche weiße Tür mit ihrer Nummer: 11. Das gleiche Warten. Und dann die gleichen Lippen, der gleiche Duft und das gleiche Haar, das sich löst und herabfällt.
Noch immer höre ich de Vere über Louki sagen:
»Ich habe nie verstanden warum … Wenn man jemanden wirklich liebt, muss man seine geheimnisvolle Seite akzeptieren …«
Was für ein Geheimnis? Ich war überzeugt, dass wir einander glichen, denn wir hatten oft Gedankenübertragungen. Wir waren auf derselben Wellenlänge. Im selben Jahr geboren und im selben Monat. Und doch muss es einen Unterschied gegeben haben zwischen uns.
Nein, auch ich kann es nicht verstehen … Vor allem, wenn ich an die letzten Wochen denke. An den November, die kürzer werdenden Tage, die Herbstregen, nichts davon schien unserer Laune etwas anhaben zu können. Wir schmiedeten sogar Reisepläne. Und zudem herrschte im Condé eine ausgelassene Stimmung. Ich weiß nicht mehr, wer unter den Stammgästen diesen Bob Storms eingeführt hatte, der von sich sagte, er sei Dichter und Regisseur aus Anvers. Vielleicht Adamov? Oder Maurice Raphaël? Was hat er uns zum Lachen gebracht, dieser Bob Storms. Er hatte ein Faible für Louki und für mich. Er wollte, dass wir alle beide den Sommer in seinem großen Haus auf Mallorca verbringen. Offenbar hatte er keinerlei materielle Sorgen. Es wurde erzählt, er sammle Bilder … Es wird so viel erzählt … Und dann verschwinden die Leute eines Tages, und man merkt, dass man nichts von ihnen wusste, nicht einmal ihre wahre Identität.
Warum geht mir die massige Silhouette von Bob Storms nicht aus dem Sinn? In den traurigsten Augenblicken des Lebens gibt es oft einen leichten Misston, eine flämische Narrenfigur, einen Bob Storms, der auftaucht und das Unglück hätte abwenden können. Er stand am Tresen, als liefen die Holzstühle Gefahr, unter seinem Gewicht zusammenzubrechen. Er war so groß, dass seine Beleibtheit nicht auffiel. Immer in eine Art Samtwams gekleidet, von dessen Schwarz sein roter Bart und sein rotes Haar abstachen. An dem Abend, als wir ihn zum ersten Mal bemerkt hatten, war er auf unseren Tisch zugekommen und hatte uns angestarrt, Louki und mich. Dann hatte er gelächelt, sich zu uns heruntergebeugt und geflüstert: »Compagnons des mauvais jours, je vous souhaite une bonne nuit. – Gefährten schlechter Tage, ich wünsch’ euch gute Nacht.« Als er begriffen hatte, dass ich sehr viele Verse kannte, hatte er einen Wettstreit mit mir austragen wollen. Sieger, wer das letzte Wort hätte. Er rezitierte einen Vers, und ich sollte einen anderen rezitieren und so weiter. Das ganze dauerte sehr
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