Im Dienste der Comtesse
wenn ihr etwas Seltsames an der Leiche Ihres Gemahls aufgefallen wäre?“
„Ich weiß es nicht.“ Mélusine drehte sich um. „Thérèse betrachtet sich als einen Teil der Familie. Ich war nur Bertiers Ehefrau …“ Sie verstummte. „Ich muss die Wahrheit herausfinden. Ich habe seine Verletzungen nicht gesehen. Ich kann nicht sagen, ob er erschlagen oder durch ein Schwert getötet worden ist. Solange ich nicht die Wahrheit weiß, kann ich den Gerüchten nichts entgegensetzen. Ich weiß nur so viel, dass er sich meinetwegen nicht duelliert hat.“ Sie verzog verbittert den Mund. „Aber erst wenn ich weiß, wer ihn umgebracht hat und warum, kann ich meinen guten Ruf wiederherstellen.“
„Und um das zu erreichen, sind Sie gewillt, eventuell noch unangenehmere Skandale ans Tageslicht zu bringen?“
„Meine Tugend, meine Ehre, mein Ruf – all das ist jetzt meine Sache“, erwiderte Mélusine. „Ich bin kein Gegenstand, den man von Hand zu Hand weiterreicht und dessen Wert sich nur nach der Höhe der Mitgift und des Erben berechnet, den ich liefern kann. Ich werde meinen Ruf verteidigen.“
Morgendämmerung, Freitag, 10. Juli 1789
Das Atelier war in kühles, fahles Morgenlicht getaucht, als Pierce die Tür öffnete. Mélusine schlief noch. Auch die wenigen Bediensteten waren noch nicht aufgestanden, um ihren Pflichten nachzugehen.
Er blieb mitten im Raum stehen und sah sich sorgfältiger um, als es ihm am Vortag in Mélusines Gegenwart möglich gewesen war. Gestern hatte er nur festgestellt, dass das hier der Raum war, in den sie sich in Augenblicken größter Not zurückzog. Im Gegensatz zum Rest des Hauses, das immer noch kaum möbliert war, wirkte dieser Raum fast überladen mit den unterschiedlichsten Künstlerutensilien. Abgesehen von den beiden Werkbänken, von denen die eine nach wie vor mit mittlerweile getrocknetem Ton besprenkelt war, gab es auch noch eine Töpferscheibe. Des Weiteren entdeckte Pierce einige Staffeleien und an der Wand lehnende Malerleinwände sowie diverse größere Gefäße, von denen das eine, wie er jetzt wusste, Ton enthielt. Und dann stand da noch ein großer, verschrammter Schreibtisch, das einzige Möbelstück, das er bislang im Haus gesehen hatte und in dem sich geheime Schubladen befinden konnten.
Er entschied, hier mit seiner Suche zu beginnen. Nur eine einzige Schublade war ungeöffnet. Erst einmal zog er die anderen heraus und sah rasch deren Inhalt durch, ehe er sich der verschlossenen zuwandte. Pierce hatte Leute gekannt, die ihren Besitz irgendwo sicher unterbrachten, den Schlüssel aber praktischerweise in unmittelbarer Nähe aufbewahrten. Es gab sogar welche, die völlig wertlose Stücke wegschlossen, die kostbarsten aber ganz offen herumstehen ließen. Nach wenigen Minuten war ihm klar, dass Mélusine weder den einen noch den anderen Fehler begangen hatte. Es war zwar schon eine Weile her, seit er ein Schloss aufgebrochen hatte, aber er wusste genau, wie das funktionierte.
Die Schublade war breit, aber ziemlich flach. Sie klemmte anfangs ein wenig, doch endlich hatte er sie halb herausgezogen. Alles, was er sehen konnte, war ein großes leeres Blatt Papier, das auf einem Stapel anderer Bögen lag.
Einen Augenblick lang saß Pierce ganz still da und lauschte auf mögliche Geräusche im Haus, ehe er den Packen aus der Schublade nahm und das oberste Blatt wegzog.
Er erstarrte und war so verblüfft über das, was er sah, dass er seine Umgebung völlig vergaß. Es war ein Bild von Mélusine, das vor ihm lag, und sie war vollständig nackt. Wie gebannt nahm er die Einzelheiten in sich auf. Auf der Zeichnung war sie stehend abgebildet; ihr unverhüllter Körper war leicht vom Betrachter abgewandt, ihr Gesicht jedoch nicht. Sie schien geradewegs aus dem Bild herauszublicken. Es bestand kein Zweifel, dass sie es war. Der Künstler hatte ihren eindringlichen, prüfenden Gesichtsausdruck mit einer Treffgenauigkeit wiedergegeben, die darauf schließen ließ, dass die restliche Skizze auch ihren Körper originalgetreu zeigte. Pierce wusste bereits, dass sie wohlgeformte Arme hatte, nun konnte er sehen, dass ihre Beine ähnlich anmutig waren. Der Künstler hatte die Wölbung ihrer Brüste und den Schwung ihrer Hüften eingefangen und offenbar nicht die Geduld gehabt, sich mit dem Ideal der klassischen Andeutungen aufzuhalten, denn er hatte auch ihre Scham gezeichnet.
Pierce bekam einen trockenen Mund. Er breitete die anderen dicken Papierbögen auf dem Schreibtisch aus
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