Im Dienste der Comtesse
Mélusine. Die Vorstellung, ihren Vater zu Boden gestreckt zu sehen, schockierte sie ein wenig. „Sie dürfen keinesfalls Gewalt anwenden. Seine Diener werden ihn verteidigen, und dann wären Sie unterlegen. Liebe Güte, ich wünschte, er würde einfach wieder weggehen“, fügte sie halblaut hinzu. „Nun, gehen wir hinein.“
Paul, der Portier, öffnete ihnen die Haustür. Er wirkte leicht verschreckt, und als Mélusine Daniel Blanc schweigend in der Eingangshalle stehen sah, wusste sie auch, warum. Sie selbst war in Daniels Gegenwart zwar noch nie nervös geworden, aber seine lautlose Anwesenheit hatte oft eine einschüchternde Wirkung auf andere.
„Wo ist Vater?“, fragte sie leicht gereizt.
„In Versailles.“
Sie atmete erleichtert auf. „Kommen Sie mit nach oben.“
„Er hat mich geschickt, damit ich Sie nach Bordeaux begleite, Madame“, erklärte Daniel, als sie den ersten Treppenabsatz erreicht hatten.
Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Ich gehe nirgendwo hin“, teilte sie ihm unverblümt mit.
„Madame …“ Daniel zögerte. „In Bordeaux wäre es sicherer und komfortabler für Sie. Es sind unruhige Zeiten in Paris. Und außerdem schickt es sich nicht, dass Sie hier ganz allein wohnen.“
Mélusine zuckte kaum merklich zusammen, denn sie befürchtete, mehr aus seiner letzten Bemerkung herausgehört zu haben.
Sie starrte ihn an und versuchte, seine Gedanken zu erahnen. Sie kannte ihn schon ihr ganzes Leben lang. Daniel war ein zuverlässiger Mensch, der seinen Verpflichtungen gewissenhaft nachging. Er war nie sehr gesprächig, dafür aber in ihrer Kindheit stets ein geduldiger Zuhörer gewesen. Er hatte sie zum Konvent gebracht, von dort auch wieder abgeholt oder sie zu anderen Orten begleitet, und während dieser Fahrten hatte sie ihn oft mit ihren kindlichen Beobachtungen und Eindrücken überschüttet. Daniel hatte meist nur wortkarg darauf geantwortet, aber es war ihm anzumerken, dass er ihr großes Wohlwollen entgegenbrachte. In Gegenwart ihres Vaters hätte sie es niemals gewagt, so offen zu sprechen.
„Sind Ihnen die Gerüchte zu Ohren gekommen?“, fragte sie ihn unvermittelt. Ihrer Stimme war deutlich anzuhören, dass sie Angst hatte, seine Sympathien verloren zu haben.
Er presste die Lippen fest aufeinander, als missbilligte er die Frage. Dann nickte er kaum wahrnehmbar mit dem Kopf.
„Schenken Sie ihnen Glauben?“ Nervös verschränkte sie die behandschuhten Finger.
Seine Augen wurden schmal. Das Schweigen dehnte sich aus, bis Mélusine das Gefühl hatte, daran ersticken zu müssen.
„Ich glaube nicht, dass Sie einen Geliebten hatten“, sagte er endlich.
Einen Moment lang verharrte Mélusine noch in ihrer angespannten Haltung, dann schloss sie die Augen und fing leicht an zu schwanken, als Erleichterung sie durchströmte. „Danke“, flüsterte sie.
„Madame, Sie sollten sich setzen“, schlug Daniel vor.
„Ja.“ Sie öffnete wieder die Augen. „Wir wollen nach oben in den Salon gehen. Es ist schon gut, Pierre. Sie müssen Daniel nicht die Treppe hinabstürzen“, fügte sie hinzu und ging weiter die Stufen hinauf. „Ich bin mir sicher, er wird mich nicht zu etwas zwingen, was ich nicht will.“
Pierre blieb neben Daniel auf dem Treppenabsatz stehen. Er war sich deutlich bewusst, dass der ältere Mann ihn gründlich taxierte.
„Wer sind Sie?“, wollte Daniel wissen.
„Pierre Dumont, der Diener von Madame de Gilocourt.“
„Seit wann?“
„Seit Mittwoch.“
„Warum …?“
„Worüber reden Sie beide?“, rief Mélusine vom nächsten Treppenabsatz herunter. „Wenn Sie nicht zu mir kommen, komme ich zu Ihnen.“
Pierre ließ Daniel mit einer stummen Geste den Vortritt. Nach einem letzten prüfenden Blick ging Daniel weiter.
„Nehmen Sie Platz“, forderte Mélusine sie auf, als sich alle drei im blauen Salon befanden.
„Madame!“, protestierte Daniel.
„Ich hasse es, wenn Leute vor mir stehen“, teilte sie ihm mit unerwarteter Schärfe mit. „Wenn Sie wollen, dass ich mich setze, müssen Sie das ebenfalls tun.“ Sie sah Daniel an. „Sie schenken also den Gerüchten über mich keinen Glauben – glauben Sie dann das über Bertiers Tod?“
„Nein“, meinte er nach kurzem Zögern.
„Warum haben Sie sich aber eben so eingeschränkt ausgedrückt?“, bemerkte Pierce. „Sie hätten doch einfach antworten können, dass Sie all den Gerüchten keinen Glauben schenken.“
Daniel sah zwischen Mélusine und Pierce hin und her.
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