Im Dunkel der Nacht (German Edition)
noch einige weitergehende Fragen stellen.«
Tina saß mit weit aufgerissenen Augen auf dem Drehstuhl neben der Anmeldung. »Ich wusste nicht mal, dass du einen Bruder hattest.«
Das versetzte ihr einen Stich. Sie hatte in den letzten zwanzig Jahren in vielerlei Hinsicht keinen Bruder. Er war nicht beim Abendessen dabei. Er lieh sich kein Geld von ihr oder half ihr nicht beim Putzen. Er tat nichts von dem, was Brüder üblicherweise taten. Er konnte es nicht. Denn er war tot.
In ihrem Herzen hatte Veronica jedoch immer einen Bruder gehabt. Dort war er am Leben, blieb es durch ihre Hoffnung. Eine Hoffnung, die sich als erbärmlich und lächerlich erwiesen hatte. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob es nun besser war, die Wahrheit zu kennen oder in ihrer seligen Einbildung zu leben.
»Er verschwand vor langer Zeit. Als ich noch ein Kind war. Sie haben die Leiche in einer Baugrube gefunden.«
Tinas Augen weiteten sich. »Warte. Die Leiche, die neulich in der Innenstadt entdeckt wurde, ist dein Bruder? Die Knochen in der Grube? Das war dein Bruder?«
Veronica nickte.
»Wow.« Tina runzelte die Stirn. »Moment. Die Bilder, die sie von dem Jungen zeigen. Er ist doch …«
»Schwarz?« Veronica beendete den Satz für sie.
»Ja. Ich glaube, man soll jetzt Afroamerikaner sagen, aber wir meinen das Gleiche.«
»Er war mein Halbbruder.« Da war es wieder. »Er stammt aus der ersten Ehe meiner Mutter. Max’ Vater ist in Vietnam gestorben.«
»Korrigiere mich, falls ich falschliegen sollte, aber ist dein Vater nicht ziemlich rassistisch eingestellt?« Tinas Stirnfalten wurden noch tiefer.
»Könnte man so sagen.« Und ob man das sagen konnte. Obwohl Veronica vermutete, dass ihr Vater auch dann irgendeinen Grund gefunden hätte, Max zu hassen, wenn er hellhäutig gewesen wäre. Sinnloser Hass war seine Paradedisziplin.
Nun, fast. Denn im Trinken machte ihm niemand etwas vor. Beides aber bedingte einander. Vielleicht wäre sein Hass ohne Alkohol geringer gewesen oder ohne Hass sein Alkoholkonsum. Sie hatte schon vor Jahren den Versuch aufgegeben, es herauszufinden.
»Das muss ja ein Spaß gewesen sein.« Tina stand auf und blätterte durch die Neuaufnahmen. »Willst du das fünfjährige Kind mit Atemstillstand in Raum zwei oder den Natasha-Richardson-Fall?« Seitdem die Schauspielerin einige Tage nach einem Skiunfall, bei dem sie sich Kopfverletzungen zugezogen hatte, hier gestorben war, kam jeder Hinz und Kunz mit einer Beule am Schädel in die Notaufnahme.
Veronica verdrehte die Augen.
Tina gab ihr die Akte. »Also schön, das fünfjährige Kind, aber dafür hab ich was gut bei dir.« Sie sauste davon, drehte sich aber noch einmal um, ehe sie hinter dem Vorhang verschwand. »Und wenn du Stattlich, Schweigsam und Sexy nicht haben willst, nehme ich gerne die Reste.«
Veronica schnaubte. Als ob sich Tina jemals mit der zweiten Wahl begnügen müsste. Sie machte sich daran, nach dem Fünfjährigen zu sehen, der einen Asthmaanfall hatte, aber nach kaum zwei Schritten gingen die Alarmsirenen los. Sie warf Tina einen vielsagenden Blick zu: »Dein Wunsch sei mir Befehl.«
»Lass mich raten. Sie war begeistert, dich zu sehen. Sie nahm das Foto entgegen und brachte ihre tiefe, unendliche Dankbarkeit zum Ausdruck, weil du dich so gewissenhaft um den Mord an ihrem Bruder kümmerst«, sagte Frank, als Zach zurückkam.
»Genau. Dann habe ich ihr einen Antrag gemacht. Wir wollen im Juni heiraten. Halt dir den Tag im Kalender frei«, gab Zach zurück.
Frank schnaubte. »Hat’s dir nicht leicht gemacht, hm?«
»Es ist schockierend, aber sie nimmt uns übel, dass wir ihren Vater zu den Verdächtigen zählen. Kannst du dir das vorstellen?«, sagte Zach übertrieben und schnallte sich an.
Frank startete den Motor und wartete, bis der Krankenwagen, der mit Blaulicht und Sirene in den Hof einbog, an ihnen vorbei war, ehe er aus dem Parkplatz fuhr.
»Absolut schockierend. Und jetzt?«
»Wir sollten uns diese Sierra School ansehen. Vielleicht finden wir jemanden, der etwas weiß, das uns weiterhilft.« Zach lehnte sich im Sitz zurück.
Bitte, lass irgendwo eine Spur auftauchen.
Gott, wie er ungeklärte Fälle hasste.
»Klingt nach einer guten Idee für morgen.« Frank fuhr auf die Interstate 5. »Habe ich erwähnt, dass ich ungeklärte Fälle hasse?«
»Du kannst meine Gedanken lesen, Frank.«
Zach schloss die Augen. Er brauchte eine heiße Dusche und ein kaltes Bier, vielleicht sogar gleichzeitig. Er wollte einen tiefen,
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