Im Dunkel der Schuld
jämmerlich schwach.
»Wir alle wollen das, Vater. Wir alle. Ohne Ausnahme. Wenn du es nicht tust, und zwar heute noch, dann tun wir es. Seit Jahren schmieden wir Pläne, wie es gelingen könnte.«
»Mörderbande!«
Die Wand hinter ihr begann zu schwanken, das fühlte Ebba. Gleich würde jemand nachgeben. Sie musste es beenden, hart bleiben, um sie alle zu beschützen. Sonst fing alles wieder von vorn an, grausamer noch, als sie es sich jetzt ausmalen konnten.
Sie trat zurück ins Glied, um ihren Worten mehr Nachdruck zu verleihen.
»Notwehr wird es sein, Vater .« Sie zischte das verhasste Wort förmlich. »Glaub es mir. Wir werden nicht ruhen, bis es erledigt ist. Du wirst keine ruhige Minute mehr haben. Hast du das verstanden?«
Er hob die Flasche an den Mund. »Mörder!«, stieà er hervor. »Was habe ich mir groÃgezogen. Ich habe für euch gesorgt, euch geliebt â¦Â«
»Lass das. Geh einfach und bring es hinter dich! Es ist vorbei. Nichts wird mehr so sein wie vorher. Du hast keine Gewalt mehr über uns. Im Gegenteil, du wirst nie wissen, ob wir uns nachts anschleichen, um dir den Schädel zu zertrümmern, du wirst keinem Essen mehr trauen können, nicht mehr in Ruhe schlafen, weil wir vielleicht das Haus anzünden â¦Â«
»Aufhören«, grunzte Bruno und begann, schleppend die Treppe herunterzupoltern. »Aufhören. Aufhören. Aufhören. Mörderbande! Mörderbande!«, schrie er auf jeder Stufe. Niemand wich zurück. Ganz nahe musste er an ihnen vorbei. Sie konnten seinen Schnapsatem riechen, den dumpfen Gestank seines alten Wollpullovers.
Unsicher wankte er vorbei, blieb stehen, drehte sich zu ihnen um.
»Ihr meint es ernst«, flüsterte er. »Ich fürchte mich vor euch. O mein Gott, steh mir bei!«
Dann griff er nach dem Autoschlüssel und stapfte hinaus in die eisige Nacht.
Fünf Uhr. Zwecklos, noch einmal zu versuchen einzuschlafen. Es würde nur ein weiterer Albtraum auf sie warten.
Barfuà tappte sie durch die Wohnung, machte sich einen Milchkaffee, setzte sich an die Küchentheke und starrte zum Fenster. Der Himmel war stockdunkel, die ganze Nacht hatte ein Sturm um die Ecken geheult, Sturzbäche hatten die Dachterrasse unter Wasser gesetzt.
Ganz anders als vor siebzehn Jahren, als es bitterkalt gewesen war und die StraÃen vereisten.
Ebba zog die kalten FüÃe hoch und umklammerte den Kaffeebecher.
Der Schicksalstag der Seidels.
Wieder einmal wanderten ihre Gedanken zu den Toten ihrer Familie. Vor siebzehn Jahren starb Bruno Seidel, vor drei Jahren nahm Frieda Seidel an jenem Tag eine Ãberdosis Tabletten ⦠Sie selbst konnte in dieser Nacht nie schlafen, und wahrscheinlich war es ihren Geschwistern ebenso ergangen.
Ein kleiner Stachel hakte sich heute in den alten Gedanken fest, ausgelöst durch etwas, das in der Kaffeestube gesagt worden war: Hatte alles, was in den letzten Jahren passiert war, mit dem Tod des Vaters zu tun?
AuÃer, dass ihre Mutter an seinem Todestag Tabletten genommen hatte, war ihr bisher keine Verbindung aufgefallen. Keiner der anderen war an einem 3. Februar gestorben, bei keinem Todesfall hatte es weitere Hinweise auf den Tag gegeben.
Oder?
Nachdenklich stellte Ebba den Becher ab und holte die alten Akten aus dem Schrank. Georgs Ordner waren akribisch beschriftet und nach Datum sortiert. Er war am 24. März 2007 gestorben. War etwas zuvor, am 3. Februar 2007, passiert? Langsam blätterte sie zurück. Nichts. Jedenfalls nichts, was aktenkundig war.
Und bei Rosie? Deren Unterlagen waren etwas unübersichtlicher. Irgendwann hatte sie wohl festgestellt, dass eine chronologische Reihenfolge unpraktisch war. Also hatte sie Unterordner angelegt: für das Haus in Arnis, die Buchhandlung, die verrückte Wohnung im Wikingturm, für Steuer, Geldanlagen, Versicherungen â¦
Systematisch inspizierte Ebba einen Hefter nach dem anderen. Rosie war am 7. März 2011 vom Balkon gestürzt, zwei Jahre nachdem ihre Mutter gestorben war. Der 3. Februar 2011 war ein Donnerstag gewesen. Keine Einträge im Kalender, keine Schriftstücke mit diesem Datum in den Geschäftsunterlagen.
Jetzt noch die Kauf- und Verkaufsverträge. Sie rissen die Wunden wieder auf. Rosies Haus in Arnis hatte sie einem Ehepaar aus Hannover verkauft, begeisterte Segler, die nicht gefeilscht hatten. Alles war unauffällig abgewickelt worden, als habe
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