Im Dunkel der Schuld
»Verdachtsmomenten« nachgegangen war, wie die junge Beamtin Patricia Wieland Ebba in einem sehr persönlichen Telefonat mitgeteilt hatte. Für die forsche Frau war Frieda Seidel ihr »erster Fall« gewesen, und sie hatte daher nach allen Seiten gründlich ermittelt. Doch sie fand nichts, was auf ein Fremdverschulden hingedeutet hätte. Abgesehen von den fehlenden fremden Fingerabdrücken hatte auch niemand je einen Besucher bei Frieda Seidel bemerkt, kein Fremder auÃer dem Personal hatte die Patientin im Krankenhaus besucht, auch die Kanüle unterm Bett, die Ebba keine Ruhe gelassen hatte, führte Frau Wieland zu keinem Ergebnis. Ihre anfänglichen Verdächtigungen gegen Ebba und Rosie hatten sich natürlich als haltlos erwiesen.
Auf Ebbas Hinweis hatte Frau Wieland darüber hinaus die Mitglieder des Betkreises und Pfarrer Claus vernommen, ebenfalls ohne Ergebnis. Es hatte Gerüchte gegeben, aber niemand hatte ein Motiv gehabt, Frieda Seidel zu vergiften, auÃerdem hatte man sich am Abend von Frieda Seidels Tod zu einem regelmäÃigen Nachtgebet getroffen, alle Mitglieder besaÃen also ein Alibi. Trotzdem hatte Kommissarin Wieland bei der Staatsanwaltschaft eine Obduktion der Leiche in der Rechtsmedizin erwirkt, die allerdings zu keinem anderen Ergebnis kam, als dass Frieda Seidel an »nosokomialer Pneumonie« mit einhergehendem Herzversagen gestorben war. In der Klinik war daraufhin eine groà angelegte Aktion zur Verbesserung der Hygiene durchgeführt worden.
Ebba hatte es beruhigt, dass die Kripobeamtin nicht lockergelassen hatte. Sie hegte immer noch groÃe Zweifel, ob ihre Mutter die Tabletten tatsächlich freiwillig genommen hatte und wirklich hatte sterben wollen. Das Ermittlungsergebnis und der angefangene Abschiedsbrief lieÃen jedoch eigentlich keinen anderen Schluss zu.
Eigentlich, eigentlich. Wie ein spitzer Stein bohrte sich ein letzter Restzweifel in Ebbas Herz und lieà nicht locker. Hatte sie etwas übersehen? Etwas, das die Polizei nicht bemerken konnte, weil nur jemand aus Friedas engstem Umfeld es gespürt hätte? Wenn man schon in der Klinik nichts gefunden hatte, dann wartete vielleicht etwas in der Wohnung, irgendetwas, ein winziges Indiz, das ihre tiefe Ãberzeugung bestätigte, dass Frieda nie und nimmer freiwillig zu Tabletten gegriffen hätte. Wenn sie â auch das war ein unvorstellbarer Gedanke â tatsächlich hätte aus dem Leben scheiden wollen, hätte sie doch eher etwas Pflanzliches eingenommen. Damit kannte sie sich aus, das wäre authentischer gewesen, hätte jeden Zweifel ausgeräumt.
Aber so kam sie nicht weiter. Alles war gründlich untersucht worden, es gab keine andere Möglichkeit.
Ebba scharrte leise mit dem Schuh, als könne das weiterhelfen, und drückte ihrer Schwester die Hand. Rosie quälten zwar keine Zweifel an der wahren Todesursache, sie verging aber fast vor Selbstvorwürfen. Man hätte etwas merken müssen, man hätte es bestimmt verhindern können, sagte sie immer wieder. Ebba versuchte sie gegen ihre innere Ãberzeugung zu beruhigen: Wenn ihre offenbar psychisch kranke Mutter den festen Willen gehabt hatte, aus dem Leben zu scheiden, hätte niemand sie daran hindern können. Sie teilte Rosie ihre eigenen Bedenken lieber nicht mit, denn es ging ihrer Schwester schon schlecht genug.
Um eines beneidete Ebba sie allerdings: Rosie konnte weinen, konnte trauern. Sie selbst, die Jüngere, empfand hingegen nach dem ersten tiefen Erschrecken nichts. Keinen Kummer, kein Mitleid. Frieda Seidel hinterlieà keine Lücke, weil sie in ihrem Leben nie eine Rolle gespielt hatte.
Ãberrascht stellte Ebba fest, dass irgendetwas ihr plötzlich die Nase verstopfte und in den Augen brannte. Trauer war es wirklich nicht, eher ein Grausen vor sich selbst, vor ihrer eigenen Hartherzigkeit. Als Tochter musste man doch um die Mutter weinen, oder nicht? Es war nicht normal, nicht einmal eine Leere zu empfinden.
Das Kirchenlied, das ihre Mutter einst für Georgs Beerdigung ausgesucht hatte, drang nun blechern aus den Lautsprechern, und sogleich begann der Pfarrer routiniert mit der Zeremonie. Ein Luftzug brachte Ebba dazu, sich umzudrehen. Kommissarin Wieland schlüpfte durch die schwere Tür, nickte kurz und mädchenhaft. Ebba grüÃte stumm zurück.
Als der Pfarrer später den diskret hinzugetretenen Helfern das Zeichen gab, den Sarg
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