Im Dunkel der Schuld
sehr gut aus. Ich habe mich persönlich um sie gekümmert. Kommen Sie.«
Ebba und Asmus standen auf, während Jörg mit unschlüssigem Gesichtsausdruck sitzen blieb. »Ebba?«
Sie schüttelte den Kopf, und er verstand. »Ich bin hier, wenn du mich brauchst.«
Hinrich ging voraus, einen für Ebba albtraumhaft endlosen Gang mit vielen Schiebetüren entlang, dann umfasste er eine Klinke und drehte sich um. Asmus räusperte sich und tätschelte ihr unbeholfen die Schulter.
»Ãberlegen Sie es sich«, sagte er leise. »Die Polizei braucht das nicht.«
»Aber ich. Bitte, Herr Hinrich.«
Hinrich schlüpfte durch die Tür und schloss sie hinter sich bis auf einen winzigen Spalt. Dann betätigte er mehrere Lichtschalter, bevor er die Tür wieder aufschob.
Ebba versteifte sich und hielt die Luft an. Die Frau, die in der Kammer in einem Daunenbett vor ihr lag, war Rosie, eindeutig. Aber sie war nicht tot. Sie lebte. Oder etwa nicht? Ihr Gesicht war unversehrt, nur die Kopfform hatte sich ein wenig verschoben, und die Wangen waren eingefallen. Sie sah weder bleich noch wächsern aus wie Georg oder ihre Mutter damals, sondern rosig, frisch, als würde sie nur schlafen. Am liebsten hätte Ebba sie in einem ersten Impuls an der Schulter gepackt und leicht gerüttelt, damit sie aufwachte.
Erst auf den zweiten Blick merkte man, dass etwas mit ihr nicht stimmte.
Asmus lieà ihren Arm los und schnaufte.
Erschüttert starrte Ebba ihre leblose Schwester an, die sich nicht rührte und friedlich aussah. So still. Viel zu still. Also doch. Jetzt hatte sie ihre Gewissheit.
Rosie war tot.
Was dachte man in solchen Momenten? Sollte man beten, wie Mutter es getan hätte? Oder ihr einfach nur alles Gute wünschen?
Etwas anderes als Mitleid, Hilflosigkeit und Trauer mischte sich in ihre Ratlosigkeit, ganz leise nur, aber unüberhörbar, und das war nicht gut. Es hatte etwas mit Wut zu tun. Wut, weil nun auch Rosie sie verlassen hatte. Wut, weil sie gegangen war, ohne ihr eine Chance zu geben, sie aufzuhalten. Wut, weil es so endgültig war.
Die Männer hinter ihr zogen sich zurück, während sie einen Schritt näher trat. Warum? Warum vom Balkon? Wie viel Angst musstest du überwinden, um es zu tun? Wie verzweifelt warst du? Warum hast du es mir nicht gesagt?
Und dann schlich er wieder heran, der Zweifel. Springen? Konnte ein Mensch das, wenn er unter Höhenangst litt?
Mitfühlend nahm Jörg sie wenig später vor der Tür des Instituts in den Arm und zog sie wie ein rohes Ei an sich. Was ihr früher manchmal als Einengung vorgekommen war, empfand sie heute als die richtige Mischung zwischen Nähe und Abstand.
Ebba hatte sich nun doch entschlossen, Rosie im Familiengrab in Baden-Baden zu bestatten. Sie wollte sie in ihrer Nähe haben, auch wenn sie sich das selbst nicht richtig erklären konnte. Hinrich würde alles Notwendige in die Wege leiten, das Begräbnis würde Freitag nächster Woche stattfinden.
»Wegen der Beerdigung«, sagte Jörg leise und scharrte mit dem Fuà in einer Pfütze geschmolzenen Schnees. »Ich fürchte, ich kann meinen Auftrag in Südtirol nicht verschieben.«
»Ach, Jörg, danke. Du hast sie ja gar nicht gekannt. Im Augenblick ist es gut, dass du in meiner Nähe bist. Aber die Beerdigung in Baden-Baden wird nur eine schlichte Zeremonie. Das schaffe ich schon; ich wäre sogar froh, wenn ich es allein hinter mich bringen könnte.«
Jörg verzog den Mund, sagte aber nichts, sondern stopfte seine Hände in die Manteltaschen. Stumm standen sie sich gegenüber, bis Ebba es fast nicht mehr aushielt. Am liebsten hätte sie den restlichen Nachmittag mit Jörg verbracht, aber konnte sie ihn nach allem, was vorgefallen war, darum bitten? Wollte sie es überhaupt?
SchlieÃlich erlöste Jörg sie. »Lass uns ein paar Schritte gehen. Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte er und nahm wie selbstverständlich ihre Hand.
Ebba hob den Kopf. Die Wolken hatten sich verzogen, ein lauer Wind war aufgekommen und brachte den Duft nach Frühling herbei. Energisch drehte sie dem Bestattungsunternehmen den Rücken zu.
Hand in Hand schlenderten sie durch die Stadt, am Dom vorbei durch stille Gässchen und über verträumte Plätze der Altstadt. Die Bewegung tat ihr gut, sie spürte, wie sich ihre Muskeln, die sich zu dicken Knoten zusammengezogen
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