Im Dunkel der Waelder
mögen so etwas.«
Einen Löffel voll aufgeweichter und viel zu süßer Cornflakes. Ich hasse alle Getreideflocken. Warum ist es Yvette niemals in den Sinn gekommen, mir einen Joghurt zu geben, ich liebe Joghurt zum Frühstück. Aber ich schlucke brav die Cornflakes.
Jemand läuft an uns vorbei.
»Virginie, wohin gehst du?«
»In den Garten! Auf Wiedersehen, Elise!«
»Geh aber nicht zu weit weg, hörst du!«
»Nein, nein!«
Türenschlagen. Warum ist Paul nicht da? Als wenn sie meine Frage gehört hätte, meint Hélène:
»Paul ist mit Steph joggen.«
Der gute Paul, er muß in Form bleiben, um sich an gelähmte Frauen heranmachen zu können.
Und wenn er es gar nicht war?
Hélène fällt plötzlich ein, daß ich vielleicht dringend auf die Toilette muß. Die Frauen tuscheln. Schließlich schlägt Yvette vor, eine Plastikschüssel zu benutzen, gesagt, getan. Alle scheinen das vollkommen normal zu finden, und mir macht es nichts mehr aus. Anfangs, im Krankenhaus, fiel es mir nicht leicht, aber man gewöhnt sich dran. Nachdem wir diese Prozedur hinter uns gebracht haben, fährt mir Hélène mit einem Waschlappen über das Gesicht und kämmt mich.
Die Tür geht auf und Stephs tiefe Stimme ertönt:
»Guten Tag, die Damen! Na, wie steht’s mit dem Knöchel, geht es wieder? Wenn man es nicht verträgt, sollte man besser nicht soviel trinken.«
Lautes Männerlachen. Entrüstet protestiert Yvette:
»Aber ich hab doch fast gar nichts getrunken, ich habe mir nur den Knöchel verdreht!«
Und so geht es hin und her, eine wahre Flut kleiner Nettigkeiten wird ausgetauscht, während ich den Kartoffelsack auf dem Sofa darstelle. Schließlich wird beschlossen, daß Paul Yvette mit dem Auto nach Hause bringt, damit ihr Knöchel nicht gleich wieder zu sehr strapaziert wird, während Steph mich nach Hause schieben wird. Meidet mich Paul?
Zwei Paar Männerarme heben mich hoch und setzen mich in den Rollstuhl. Ich versuche, die Hände wiederzuerkennen, die mich berühren, aber das ist nicht möglich.
Draußen ist es heiß und schwül, die Luft steht. Während er meinen Rollstuhl schiebt, pfeift Steph La Mer vor sich hin. Ich spüre keine Sonnenstrahlen auf meiner Haut, es muß bedeckt sein. Das Gras duftet. Ein Vogel trällert aus voller Kehle.
»Seltsam, daß wir uns nie irgendwo begegnet sind.«
Also, ich finde es seltsam, daß der zartfühlende Paul mit diesem ungehobelten Kerl befreundet ist.
»Wie, glauben Sie, sehe ich aus? Halten Sie mich zum Beispiel … eher für zart oder kräftig?«
Wie soll ich auf diese blöde Frage antworten? Er bemerkt es und korrigiert sich:
»Nun, sagen wir … bin ich kräftig?«
Zeigefinger. Ich werde dir doch nicht den Spaß verderben.
»Richtig! Ich bin ein Meter achtzig groß und wiege neunzig Kilo.«
Er wird mir doch jetzt nicht alle seine Maße aufzählen, oder?
»Virginie mag Sie sehr.«
Er springt übergangslos von einem Thema zum anderen.
»Der Tod ihres Bruders hat sie sehr mitgenommen. Nun, eigentlich war er ihr Halbbruder. Und dann die anderen Kindermorde … Ich begreife nicht, warum Paul sich nicht hat versetzen lassen. Das muß doch schrecklich sein für Hélène. Gut, sie sind umgezogen, aber nur fünfzehn Kilometer von … Ich finde Sie einfach hinreißend.«
Neuer Sprung!
»Anfangs hatte ich regelrecht Angst, Ihnen zu begegnen. In der Gegenwart von Behinderten fühle ich mich eigentlich unwohl. Und dann, ich weiß nicht … ich habe mich daran gewöhnt.«
Du zumindest!
»Und zwar dermaßen, daß Sophie mir eine Szene gemacht hat, stellen Sie sich mal vor! Vielleicht, weil Sie bei mir die alte Wunschvorstellung wecken, ein Sioux zu sein, der eine ohnmächtige weiße Frau entführt.«
Ich sehe es vor mir, wie mich dieser King Kong in seiner Jogginghose durch die Sierra Nevada schleppt!
»Ich bin sehr eifersüchtig auf Paul. Ich ertrage es nicht, daß er Sie berührt.«
Ein Verrückter. Noch ein Verrückter. Der Gedanke schießt mit der Geschwindigkeit, in der man eine Pizza im Mikrowellenherd backt, durch den Kopf: die Nadel … könnte das er gewesen sein? Der Rollstuhl bleibt unvermittelt stehen, ruckartig werde ich aus meinen Überlegungen gerissen. Ich höre ein dumpfes Geräusch hinter mir, so als ob etwas zu Boden fallen würde. Ein Sack? Was treibt er da?
Stille. Fröhlich zwitschernd fliegt ganz in meiner Nähe ein Vogel in die Luft. Steph? Etwas Nasses fällt auf meinen Unterarm. Ich spüre, wie es mich schaudert. Noch ein Tropfen. Ich bekomme
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