Im Dunkel der Waelder
was Ihnen passiert ist, kann ich keine Logik erkennen. Es sei denn, es gäbe einen Zusammenhang zwischen diesem Vorfall und Ihrer Freundschaft zu Virginie, die, wenn ich mich nicht irre, gestern aus dem Ferienlager zurückgekommen ist.«
Schlange. Du hast uns also die ganze Zeit weiter beobachtet.
»Folglich kann ich nicht umhin anzunehmen, daß Virginie Ihnen etwas – möglicherweise unbeabsichtigt – anvertraut hat, etwas, das eine potentielle Gefahr für eine dritte Person darstellt, eine so große Gefahr, daß es sicherer ist, Sie umzubringen, als das Risiko einzugehen, daß diese Information ans Licht kommt. Haben Sie Kenntnis von einer derartigen Information, Mademoiselle?«
Das ergibt keinen Sinn. Wenn ich recht verstehe, nimmt Yssart an, daß der Typ, der mich überfallen hat, derjenige ist, der die Kinder umgebracht hat, und in Panik geraten ist, weil mir Virginie etwas über ihn anvertraut haben könnte. Aber, Gegenfrage, Herr Kommissar, wenn er fürchtet, daß Virginie mir irgend etwas erzählt hat, warum bringt er dann nicht einfach die Kleine um, anstatt mich anzugreifen, mich, wo ich doch überhaupt nichts preisgeben kann?
»Entschuldigen Sie, aber ich hatte Ihnen gerade eine Frage gestellt.«
Ah, ja, stimmt.
»Hat Virginie Ihnen etwas von großer Wichtigkeit über den Mord an dem kleinen Michael anvertraut?«
Kein Zeigefinger. Ich lüge nicht. Sie hat mir nichts anvertraut, was Rückschlüsse auf den Täter zuließe. Alles, was sie mir gesagt hat, war, daß sie die Morde an Michael und ihrem Bruder beobachtet hat. Aber bestimmt könnte Yssart, wenn er das wüßte, sie befragen und ihr das Geheimnis entlocken. Dazu müßte er mir aber die richtige Frage stellen. Dieser Mann muß hellsehen können, denn das ist exakt die Frage, die er mir stellt:
»Mademoiselle Andrioli, bei unserem ersten Gespräch, habe ich Sie gefragt, ohne darauf eine Antwort zu erhalten, ob Virginie Ihnen gegenüber zugegeben hat, einen oder mehrere Morde beobachtet zu haben. Wenn Sie gestatten, wiederhole ich meine damalige Frage. Hat Virginie etwas in diese Richtung gesagt?«
Ohne zu zögern, hebe ich diesmal den Zeigefinger.
»Um welche Kinder handelte es sich?«
Er geht die Liste der Opfer durch. Ich hebe den Finger, als ich Renauds und Michaels Namen höre.
»Gut. Es ist doch merkwürdig, welche Streiche uns die Erinnerung spielt, nicht wahr? Nun, ich bin jedenfalls froh, daß Sie sich wieder erinnern. Leider wird uns das nicht von großem Nutzen sein. Sehen Sie, Virginie hat Sie angelogen. Den Mord an ihrem Bruder kann sie nicht beobachtet haben. Denn als er verübt wurde, war sie mit ihrer Mutter zusammen, half ihr, Marmelade einzukochen. Hélène Fansten ist sich in diesem Punkt absolut sicher: Virginie hat an jenem Morgen das Haus nicht verlassen. Sie hatte die Grippe und es regnete. Auch im Fall des kleinen Michael hat Virginie Sie belogen: Sie ist zwar mit ihm zusammen Fahrrad gefahren, aber Hélène Fansten hatte ihr strikt untersagt, die Siedlung zu verlassen – Sie verstehen, nachdem das mit Renaud geschehen war, war sie sehr vorsichtig geworden … Und so kam Virginie zurück und hat im Garten gespielt, sie ist nicht mit Michael in den Wald gegangen. Verstehen Sie, was ich sage? Sie hat Sie angelogen.«
Das ist nicht möglich. Woher konnte Virginie wissen, wo Michaels Leichnam lag? Und wie konnte sie wissen, daß er tot war, obwohl man seine Leiche da noch gar nicht gefunden hatte? Die einzig mögliche Erklärung ist die, daß ihre Mutter sie nicht die ganze Zeit im Auge hatte.
»Am Morgen des 28. Mai, nachdem Hélène Fansten Virginie verboten hatte, mit Michael wegzugehen, hat das Mädchen Klavier geübt, und anschließend haben sie gemeinsam im Garten Unkraut gejätet. Madame Fansten hat sie also nicht eine Minute lang unbeaufsichtigt gelassen.«
Hélène muß sich irren. Eine Viertelstunde hätte genügt …
»Ich erzähle Ihnen das alles nicht, weil ich mich so gerne mit Ihnen unterhalte, sondern damit Sie sich darüber im klaren sind, in welchem besorgniserregenden Zustand sich Virginie befindet. Ein Zustand, der meiner Ansicht nach einen ganz einfachen Grund hat: Sie hat die Morde nicht beobachtet, aber sie glaubt, sie weiß, wer der Mörder ist.«
Falsch, Yssart! Warum sollte der Mörder mich zu töten versuchen, wenn sie nur ›zu wissen glaubt‹, wer es ist? Nein, sie weiß tatsächlich, wer der Mörder ist, und er fürchtet, daß sie es mir erzählt hat. Und Virginie kann er nicht
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