Im Dunkel der Waelder
sich die Ereignisse immer wieder vor meinem inneren Auge ab:
1)Ich lerne Virginie kennen, die mir etwas über einen Kindermörder erzählt.
2)Ihre Erzählung wird durch das Auftauchen der Leiche des kleinen Michael Massenet bestätigt.
3)Ich lerne ihre Eltern, Paul und Hélène Fansten, und deren Freunde kennen: Stéphane und Sophie Migoin, Manuel und Betty Quinson, Jean-Mi und Claude Mondini.
4)Man versucht mich umzubringen!
5)Virginie sagt mir Mathieus Tod vorher.
6) Mathieu wird ermordet. Schlußfolgerung?
Virginie ist der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Geschichte. Aber welche Rolle kommt mir dabei zu? Wie kann ich mit meiner Behinderung überhaupt eine Rolle in dieser schaurigen Geschichte spielen?
Es scheint, als ob Regen aufzieht. Der Himmel ist wie ich: Unentschlossen, mürrisch, aufgewühlt.
Es ist Nachmittag. Ich sitze im Wohnzimmer und höre eine Kinderkassette. Nicht, daß ich in ein infantiles Stadium zurückverfallen wäre, aber Virginie ist da und hat ihre Kassetten mitgebracht.
»In Jurassic Park benutzen sie, wie hier auch, eine Ziege als Köder«, erklärt sie plötzlich.
Und in Boissy-les-Colombes muß ich als Ziege herhalten, hätte ich ihr am liebsten geantwortet.
»Es ist nicht die Schuld der Wölfe, daß sie Schafe töten. Sie müssen ja schließlich was essen.«
Genau. Du bist auf dem richtigen Weg. Sprich nur weiter.
»Und manchmal ist es bei den Menschen genauso. Sie machen manche Dinge auch, weil sie müssen. Auch wenn es böse ist.«
Virginie, mein Liebling, du hast soeben das Problem der Willensfreiheit angesprochen, und ich kann dir bei der Lösung nicht weiter helfen; zum einen, weil ich stumm bin, zum anderen, weil ich selbst auch keine Antwort weiß.
»Aber ja, sie hört.«
Was? Ich verstehe nicht, was sie damit meint. ›Ja, sie hört‹? Wer hört? Ich? Mit wem spricht sie? Mit Yvette? Aber Yvette hat doch die Gelegenheit genutzt, um schnell in die Apotheke zu gehen. Sie hat sogar die Fenster geschlossen und die Tür abgesperrt.
»Nein, wenn ich dir doch sage, daß sie hört! Sie kann nur nicht sprechen!«
Was spielt sie denn da für ein Spiel? Die Kassette ist doch zu Ende. Virginie legt anscheinend eine andere Kassette ein, denn ich höre, wie sie sich am Apparat zu schaffen macht. Ah, Peter und der Wolf von Tschaikowski. Die Musik erfüllt den Raum, und ich lausche angestrengt, um den tieferen Sinn des Stückes zu verstehen.
»Sie ist sehr nett. Du darfst ihr nichts tun!«
Virginie? Virginie, mein Liebling, was erzählst du da? Ich hebe den Zeigefinger.
»Keine Angst, Elise, ich habe es ihm erklärt.«
Was erklärt? Wem? Ich werde langsam nervös. Und wenn sie nun nicht spielt? Und wenn sie tatsächlich mit jemandem spricht?
»Er findet dich sehr hübsch.«
O nein! Ich versuche mit aller Kraft zu lauschen, um einen Atemzug, die geringste Bewegung wahrzunehmen, aber diese höllische Musik übertönt alles.
»Er besucht mich oft. Er hat Angst, verstehst du …?«
Aber wer, wer in Gottes Namen?
»Hör auf, ich habe dir gesagt, du sollst sie nicht anfassen!«
Sie spielt nicht. Dieses Kind spielt nicht. Sie spricht mit irgend jemandem. Mit jemandem, der in meinem Wohnzimmer ist und mich ansieht. Mit jemandem, der schweigt. Der mich hübsch findet. Der mich anfassen will. Stop! Ich spüre, wie eiskalter Schweiß über meinen Rücken rinnt. Ist ›er‹ es? Ist es der Mörder? Ich bin so angespannt, daß ich das Gefühl habe, jeden Augenblick zu zerspringen. So sag doch was, verdammter Dreckskerl!
»Mama will nicht, daß ich mich mit ihm unterhalte. Sie sagt, das ist schlecht.«
Wie? Hélène kennt ihn auch? Ein Knarren an meiner rechten Seite … Was war das? Was war das? Nähert sich mir jemand?
»Aber ich weiß, daß er Angst hat, ganz alleine da unten im Dunkeln. Also erlaube ich ihm zu kommen.«
War da nicht ein Seufzer? Habe ich nicht direkt neben mir ein Seufzen gehört? Virginie, hör auf damit, ich flehe dich an. Bring diesen Typen nach draußen, raus! Ich hebe den Zeigefinger mehrmals hintereinander.
»Du glaubst mir also auch nicht? Niemand glaubt mir, aber es stimmt, Renaud ist da, er besucht mich.«
Renaud? Ich verstehe nicht. Renaud? Glaubt sie etwa … mein Gott, glaubt sie etwa, ihr Bruder wäre da?
»Er fürchtet sich in seinem Sarg, also besucht er mich, wenn ich allein bin. Und mit dir ist es, als wäre ich allein, weil du nichts siehst.«
Sie glaubt, ihr toter Bruder würde sie besuchen. Dies Kind ist völlig gestört, Yssart hat
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