Im Dunkel der Waelder
Zeigefinger.
»Haben Sie das Bewußtsein verloren?«
Zeigefinger.
»War Jean Guillaume schon da, als Sie wieder zu sich kamen?«
Zeigefinger. Mein Gott, ist das langweilig!
»Hat es zum Zeitpunkt des Unfalls schon geregnet?«
Zeigefinger. Was hat denn der Regen damit zu tun?
»Gut, ich danke Ihnen.«
Das Notizbuch wird zugeklappt. Yvette kommt herein:
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Ähm … nein danke, ich bin in Eile. Übrigens, stimmt das Gerücht, daß Stéphane Migoin und seine Frau sich scheiden lassen?«
»Ah, das weiß ich nicht! Ich höre mir solche Klatschgeschichten nicht an!« gibt Yvette würdevoll zurück. »Sind Sie fertig?«
»Ja, ich gehe. Anscheinend ist seine Frau unglaublich eifersüchtig. Das erzählt man sich zumindest. Auf Wiedersehen, meine Damen.«
Wenn ich recht verstehe, verdächtigt man diese alte Ziege von Sophie, aus Eifersucht ihren Mann k.o. geschlagen und mich ins Wasser gestürzt zu haben … Warum nicht? Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem alle Theorien ihre Berechtigung haben.
»Wirklich ein hübscher Kerl, dieser Inspektor«, sagt Yvette, während sie irgend etwas aufräumt. »Und nicht so ein ungehobelter Klotz wie sein Chef … Aber ich habe nicht genau verstanden, worauf er mit seinen Fragen hinauswill. Aber nun … Virginie, meine Kleine, es wird Zeit, nach Hause zu gehen. Mach dich fertig, dein Papa wird gleich kommen.«
Es läutet. Papa ist da.
»Guten Tag, Yvette, guten Tag, Lise. Es hat sich ganz schön abgekühlt, was? Bist du fertig, Virg’?«
»Kommen Sie herein, Paul. Entschuldigen Sie, aber ich habe etwas auf dem Herd stehen …«
Yvette geht.
»Papa, willst du sehen, was ich gemalt habe?«
»Ja, aber schnell. Geht es Ihnen gut, Lise?«
Zeigefinger. Seine Stimme klingt abgespannt.
Virginie trippelt über das Parkett.
»Guck mal.«
Das Geräusch einer schallenden Ohrfeige. Was ist passiert?
»Mach so etwas nie wieder, hörst du, Virginie? Nie wieder!«
Seine Stimme klingt leise und dumpf. Er muß vor Wut kochen. Ratsch, das Papier wird zerrissen. Virginie schnieft.
»Komm, wir gehen. Auf Wiedersehen, Lise, auf Wiedersehen, Yvette.«
Er verströmt die Wärme eines Tiefkühlschranks. Ich bin baff. Paul, der immer so überlegen ist … Sicher, wenn Virginie ihm Renauds Porträt als Zombie unter die Nase gehalten hat … Aber es ist schließlich nicht ihre Schuld, wenn sie ein Trauma hat, das arme Kind. Man könnte meinen, niemand in der Familie würde es bemerken. Bald wird man sie noch schlagen, weil sie Albträume hat. Ich auf alle Fälle durchlebe einen Albtraum. Als hätte ich nicht schon genug Probleme, als wäre ich nicht schon unglücklich genug … Nein, bitte kein Selbstmitleid. Und ich kann nicht einmal beschließen, mich zu betrinken, um alles zu vergessen.
Die kriminalistischen Untersuchungen bringen nichts Neues. Das Wetter ist unfreundlich. Ich auch. Es ist kühl und es nieselt. Yvette hat begonnen, die Sommersachen wegzuräumen und die Wintersachen zu sortieren. Gerade war Catherine die Große zu ihrem täglichen Massagetratsch da. Sie hat bestätigt, daß sich die Migoins trennen wollen. Das hat ihr Stéphane beim Tennis anvertraut. Auch bei Paul und Hélène soll nicht gerade alles zum Besten stehen. Liegt das am Wechsel der Jahreszeit? Als mich Hélène gestern besuchte, hatte ich das Gefühl, sie weinte. Die einzigen, bei denen alles in Ordnung scheint, sind Jean Guillaume und meine Yvette. Gestern Abend waren sie im Kino, darum war auch Hélène bei mir. Sie haben sich den letzten Clint Eastwood angesehen. Für mich war das Kino immer so wichtig. Zum Teufel. Zum Teufel mit dem Leben, zum Teufel mit dem Tod, zum Teufel mit der ganzen Welt.
7
Sonntägliche Spazierfahrt im Auto. Paul macht mit uns eine kleine Spritztour durch das Essonne, ›dort ist es im Spätsommer so schön‹. Mich hat man mit dem Sicherheitsgurt auf dem Beifahrersitz festgeschnallt. Hélène und Virginie sitzen hinten. Und Yvette hat die Gelegenheit genutzt, um eine entfernte Cousine zu besuchen, natürlich in Begleitung von Jean Guillaume. Das Fenster ist einen Spaltbreit geöffnet, es riecht nach Landluft und feuchtem Gras. Keiner sagt ein Wort. Von Zeit zu Zeit bemerkt Paul: »Hast du die Kirche gesehen? Wie wunderschön«; Variante: »Hast du den alten Bauernhof gesehen? Ein Wahnsinnskasten!« Und Hélène antwortet: »Ja, sehr schön.« Virginie ist in ihr Fünf-Freunde-Buch versunken und hört und sieht nichts.
»Ist Ihnen kalt,
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