Im Dunkel der Waelder
nicht nur ein Mörder, sondern auch ein gewalttätiger Alkoholiker, oder? Ein wahrer Roman von Zola!
O nein, nicht an Zola denken, nicht an seine Bestie Mensch oder irgendein Buch in der Art.
Das Warten wird mir unendlich lang. Es ist zugleich langweilig und anstrengend, nervenaufreibend. Vor, zurück, rechts, links, ich male mit meinem Rollstuhl Arabesken auf das Parkett und halte nur von Zeit zu Zeit inne, um den Arm zu heben und die Faust zu ballen. Ich muß aussehen wie eine Befreiungskämpferin im Rollstuhl. »Boissy-les-Colombes: Die hilflose Behinderte war eine gefährliche Terroristin!« Vor, zurück, auf zur Mazurka der Gelähmten.
Ich habe das Warten satt. Ich wünsche mir, daß die Zeit schneller vergeht. Daß Gassin läutet und sagt: ›So, wir haben ihn.‹
Es läutet.
»So! Wir haben ihn!«
Na, so was! Gassin!
»Ich habe einen Haftbefehl gegen Tony Mercier. Überall sind Straßensperren errichtet worden, alle Flughäfen und Bahnhöfe werden kontrolliert. Er kann uns nicht mehr entkommen!«
Das ist besser als nichts.
»Wissen Sie, ich habe Yssart, dem richtigen, meine ich, oft gesagt, er solle sich mehr um das Mädchen kümmern, um die kleine Virginie Fansten. Aber er wollte nicht auf mich hören. Er hielt das für Unsinn. Nun, heute bin ich sicher, daß er Unrecht hatte; sie hatte etwas mit der Geschichte zu tun, das habe ich immer gespürt, der Beweis ist, daß Mercier Virginies Vater ist. Mein Gott, wenn ich bedenke, daß wir diese Spur nach dem Tod des kleinen Renaud nicht weiter verfolgt haben! Wenn Hélène Fansten uns nur damals von Mercier erzählt hätte! Sie sagt, sie wollte einen Schlußstrich unter ihre Vergangenheit ziehen, sie habe gewußt, daß er inhaftiert war und habe geglaubt, auf ihr laste ein böser Fluch … Also wirklich, können Sie sich das vorstellen?«
Ich habe begriffen, daß die Dinge nie so einfach sind, wie man denkt. Er seufzt.
»Erholen Sie sich gut bei Ihrem Onkel. Wenn Sie zurückkommen, ist alles vorbei.«
Ganz schön optimistisch, der junge Mann. Ich frage mich, warum er gekommen ist, um mir das zu erzählen. Und wenn es ein falscher Gassin ist? Schließlich könnte das Spielchen unendlich lange so weitergehen. Und wenn ich eine falsche Elise wäre, und die richtige gerade über die Wiesen hüpft und Gänseblümchen pflückt …
Es hupt zweimal. Ah, das müssen Hélène und Paul sein.
»Wir kommen!« ruft Yvette aus dem Fenster. »Wo ist nur meine Brille? Und Ihr Wollschal? Ich bin sicher, daß ich ihn dort hingelegt habe.«
Yvette wirbelt um mich herum, läuft hinaus, eilt in die Küche und schiebt mich schließlich nach draußen.
»Entschuldigen Sie, ich bin etwas spät dran«, sagt Hélène, während sie mich auf den Vordersitz hebt. »Wir legen den Rollstuhl in den Kofferraum.«
»Ist Paul nicht da?«
»Er erwartet uns in der Bank.«
»Und Virginie?«
»Sie ist in der Schule, wir holen sie auf dem Weg ab«, erklärt Hélène. Yvette nimmt auf dem Rücksitz Platz, ich höre, wie sie tief seufzt und schwerfällig in die Polster sinkt. Hélène setzt sich ans Steuer, beugt sich zu mir herüber und befestigt meinen Sicherheitsgurt.
Sie fährt an. Der Kies knirscht unter den Rädern. Tiefes Schweigen. Hélène schaltet das Radio ein. Ein ohrenbetäubender Rap, ich verabscheue Rap, ich verstehe nie die Worte, außerdem bekomme ich Lust, mit dem Kodien wackeln wie ein Dromedar.
Wir halten. Hélène steigt aus. Ach ja, die Bank. Yvette ist recht schweigsam, ob sie eingeschlafen ist? Die hintere Tür öffnet sich:
»Guten Tag, Lise.« Pauls Stimme übertönt die Musik. Seine Tür schlägt zu, dann die Fahrertür.
»Also, los geht’s!« sagt Hélène und fährt an.
Die Fahrt dauert lang. Wo ist denn bloß diese merkwürdige Schule? Es ist sicherlich die neue, die an der D56 liegt. Keiner spricht ein Wort.
»Verdammt!« brüllt Hélène plötzlich.
Was ist los?
»Neiiin!«
Mein Herz klopft zum Zerspringen, scharfes Bremsen, der Wagen bricht aus, ich werde nach vorn geschleudert, etwas schlägt gegen meinen Kopf, und mir wird schwarz vor Augen.
Kopfschmerzen. Habe das Gefühl, mein Kopf hat sich ums Doppelte vergrößert. Fürchterlicher Durst. Mein Mund ist völlig ausgetrocknet. Wo bin ich? Anscheinend sitze ich. In meinem Rollstuhl, denn unter meinem Finger spürte ich einen Knopf. Ich höre das Tropfen eines Wasserhahns. Der Unfall. Es scheint nicht sehr schlimm gewesen zu sein, denn ich bin nicht im Krankenhaus, soviel ist sicher, sonst
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