Im Dunkel der Waelder
Frage! Obwohl ich mich am liebsten sehr rasch fortbewegen würde, fahre ich ganz vorsichtig, denn ich will nicht riskieren, Virginie ein dreißig Zentimeter langes Messer in die Beine zu rammen. Der Couchtisch, Pauls Hosenbeine, so, da wären wir. Ich ziehe an ihrem Rock.
»Was hast du vor? Willst du mich in Scheiben schneiden?«
Das Schlimme ist, ich habe den Eindruck, daß sie sich diese Frage ernsthaft stellt. Ich umklammere den Griff und presse den Arm fest gegen die Seite des Rollstuhls, die Messerklinge steht nach oben. Ich hoffe, daß Virginie jetzt versteht, was ich vorhabe. Ich weiß, daß die scharfe Klinge des Messers zur richtigen Seite zeigt, denn der Griff ist geschwungen, da kann man sich nicht irren. Er ist ergonomisch geformt, das stand damals auf der Verpackung. Virginie gähnt ausgiebig:
»Du willst die Schnur durchschneiden?«
Ich hebe die Hand und drücke sie an das Rad des Rollstuhls.
»Aber du kannst doch nichts sehen, du wirst mir in die Beine schneiden!«
Deshalb sollst du ja auch deine Beine in die richtige Position zum Messer bringen, Virginie, los, mach schon, denk nach!
Waren da nicht Schritte auf dem Gang? Nein, falscher Alarm. Virginie hat wohl nachgedacht, denn plötzlich spüre ich ihre Schuhsohlen an meinem Arm.
»Ich werde es machen, beweg dich nicht!«
Ich denke nicht daran. Sie rutscht auf dem Sofa soweit herab, bis sich das Messer zwischen ihren Knöcheln befindet. Dann beginnt sie, die Beine vor und zurück zu bewegen. Ich konzentriere mich darauf, das Messer festzuhalten. Es ist ein angenehmes Gefühl, ein Messer zu haben, ich hätte nie gedacht, daß es so beruhigend sein könnte, ein ordentliches Fleischmesser in der Hand zu halten. Die Nylonschnur löst sich.
»Klasse! Und jetzt die Hände.«
Sie steht auf, kniet sich mit dem Rücken zu mir hin und beginnt erneut, sich vor und zurück zu bewegen, wobei sie ununterbrochen gähnt. So, gleich haben wir’s geschafft, die Schnur gibt nach. So weit, so gut. Jetzt mußt du uns die Tür aufmachen, Virginie. Mach die Tür auf …
Ich fahre rückwärts bis zur Tür, um ihr klarzumachen, was ich will. Ich höre ihre Schritte.
»Papa … Yvette … Elise, Papa und Yvette sind hier. Sie bewegen sich nicht, ich kann nichts sehen, weil es hier ganz dunkel ist, ich werde die Rolläden hochziehen …«
Nein, auf gar keinen Fall!
»Ich krieg’ sie nicht hoch, sie sind blockiert. Papa … Papa, sag doch was! Hör auf, mich anzustarren, sag was!«
Ich spüre, wie ich eine Gänsehaut bekomme, ich bete, daß sie nicht auf seinen Schoß klettert, aber ich weiß, daß sie es tun wird, und dann wird sie schreien und dann … Jemand hat auf den Fahrstuhlkopf gedrückt, ich höre, wie sich der Aufzug in Bewegung setzt. Virginie, ich bitte dich, meine Kleine, rasch!
»Wir müssen einen Arzt holen, Papa ist schwer verletzt und Yvette auch!«
Sie ist jetzt ganz dicht neben mir, ich spüre, wie ihre kleinen, geschickten Finger nach dem Riegel suchen, sie schiebt ihn zurück, gut, aber was macht sie jetzt? Virginie! Ich spüre sie nicht mehr. Virginie, wo bist du? Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Augenblick, ein Versteckspiel anzufangen! Nichts, nur ein paar undeutliche Geräusche. Ich atme tief durch und zähle ganz langsam bis zwanzig. Ich höre, daß sie sich rechts von mir bewegt. Ein neues Spiel? Das Schlimmste, wenn man nicht sprechen kann, ist, daß man die Leute nicht anbrüllen, sie nicht anschnauzen, ihnen keine Befehle erteilen, sie nicht beschimpfen kann … Was würde ich darum geben, wenn ich jetzt jemanden beschimpfen könnte. Ein Luftzug zu meiner Rechten, ah, endlich, die Tür öffnete sich und …
»Was machen Sie denn hier?« fragt Jean Guillaume und schiebt mich ins Zimmer zurück.
»Sie hat uns erwartet«, erwidert Hélène und schließt die Tür wieder.
Ihre Hand legt sich auf die Rückenlehne des Rollstuhls, und sie zieht mich langsam zurück. Ich verstehe nicht. Warum hat Hélène Guillaume mitgebracht? Und Virginie? Warum spricht Hélène nicht mit ihr?
»Yvette!« ruft Guillaume plötzlich völlig entsetzt. »Yvette!«
»Sie hört Sie nicht«, erklärte Hélène.
»Sie muß hier raus. Und Paul, mein Gott!«
»Keiner rührt sich von der Stelle«, befiehlt Tony-Yssart mit Grabesstimme.
Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Ich glaube, ich werde verrückt. Woher kommt er jetzt? Woher kommen die anderen alle? Was haben sie in Benoîts Wohnung zu suchen? Und Yvette? Wollen sie sie etwa auf dem Sofa
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