Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
…«
Sie lachte leicht. »Nein, wir sind uns nicht begegnet. Aber ich habe dich einmal beschattet. In einem grünen Mazda. Eva Jensen heiße ich.«
»Ach sooo – damals. Naja, dann …«
»Hab ich gestört?«
»Nein, ich wollte gerade gehen.«
Vegard Vadheim war von der Schreibtischkante heruntergehüpft und stand nun mit einem halben Lächeln um den Mund da. »Trainierst du eigentlich noch, Veum?« Zu Eva Jensen sagte er: »Veum und ich haben uns ein paarmal gegenseitig ganz schön aus der Puste gebracht, als er beim Jugendamt arbeitete und für das Rathaus lief!«
»Ich laufe recht viel«, sagte ich. »Wenn der Sommer gut ist und die Seele im Gleichgewicht … Vielleicht sehen wir uns beim Bergen-Marathon im Herbst?«
»Tja, vielleicht, Veum, vielleicht.«
»Also dann – tschüß!« Ich nickte den beiden zu. Eva Jensen war in blau gekleidet: blaue Hemdbluse und blauer Kordrock. Ihr Lächeln hing noch bis hinaus auf die Straße an mir. Vor ein paar Jahren hätte ich mich vielleicht verliebt. Aber heute nicht mehr. Ich war eine Ruine, eine verlassene Festung, ein längst gepflügter Acker. So fühlte ich mich jedenfalls, und so hatte ich mich seit dem letzten November gefühlt.
Manchmal, wenn ich Polizisten wie Hamre, Muus und Vadheim traf, dienstlich traf, passierte es, daß ich mich dabei ertappte, mir vorzustellen, wie es ihnen wohl privat ging.
Jakob E. Hamre hatte sicher ein geordnetes Privatleben. Ich ging davon aus, daß er eine nette Frau hatte, die ihm gesundes Brot backte und zwei kleine, rotbäckige Kinder, daß er nachmittags mit dem kleinsten auf den Spielplatz und abends zur Elternversammlung an die Schule des älteren ging; daß er bei einer Tasse Kaffee mit den Nachbarn über Fußball und Politik diskutierte, sonntags Touren machte in den Bergen um die Stadt, ein oder zweimal im Monat mit seiner Frau ins Kino oder Theater ging und es sich vielleicht sogar zwischendurch einmal leistete, sie zu einem besseren Abendessen auszuführen. Er liebte sporadisch, aber keineswegs leidenschaftslos, obwohl es mich nicht gewundert hätte, wenn er danach aufstände, um sich die Haare zu kämmen.
Dankert Muus dagegen war der Typ, der nach Hause kam und erwartete, daß alle in Habachtstellung standen und ihn willkommen hießen, das Abendessen auf dem Tisch war und die Tageszeitung fein zusammengefaltet an Papas Platz im Sofa, zwecks gemächlichen Durchlesens während des Abendkaffees. Ich nahm an, daß er den Abend vor dem Fernsehschirm verbrachte, die Füße auf dem Tisch und eine halbe Flasche Pils in Reichweite, während er brummend die Nachrichten des Tages kommentierte, den Wetterbericht für den folgenden Tag oder die abendliche Sendung des Fernsehtheaters. Mit dem Hut auf dem Kopf und grauen Bartstoppeln erlebte er seine leidenschaftlichsten Augenblicke, wenn auf dem Bildschirm ein Fußballspiel lief.
Dem schmerzlichen Flackern in seinen Augen nach zu urteilen, nahm ich an, daß Vegard Vadheim zu denen gehörte, die ein problematisches Liebesleben führten. Aus irgendeinem Grund sah ich ihn immer in einer schummerigen Küche vor mir, an einem Tisch, auf dem für zwei gedeckt war, mit Rotwein in den Gläsern. Ihm gegenüber saß eine Frau mit langen blonden Haaren und sensiblen Zügen. Sie saßen über den Tisch gebeugt und sprachen über ernste Dinge. Ab und zu war das Bild anders: sie war aufgestanden, starrte aus dem Fenster, in das Herbstdunkel hinaus, während er sie am Handgelenk hielt; auf dem nächsten Bild war sie auf dem Weg durch die Tür, und er saß allein am Tisch und sah ihr traurig nach. Ich konnte ihn vor mir sehen, wie er vor seinem Bett stand, während er seinen Koffer packte und die Kleidungsstücke fein säuberlich hineinlegte, die letzten Exemplare der zwei Gedichtsammlungen hervorholte, die er geschrieben hatte, ein paar Sportmedaillen dazuschmiß, ins Kinderzimmer ging und eine Weile in der Türöffnung stehenblieb, bevor er hinging und den schlafenden Kindern über das Haar strich. Und ich konnte ihn vor mir sehen, wie er schleppend die schmale Treppe in einem dunklen Haus hinunterging, nur die blonde Frau ist nicht mehr in dem Bild. Der Mann in drei Stadien.
Vielleicht war nichts von all dem richtig. Vielleicht waren es nur Phantasien. Plötzlich bist du auf dem Weg aus einem Haus und dein Kopf ist voll von Bildern.
Und Eva Jensen?
Sie ist ein Lächeln, das langsam erlischt.
11
Was fängt man mit sich an, wenn Juni ist und die Tage dunkel sind und der Regen wie schmutzige
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