Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
linken Reihe, mit einer Kanüle in einem Arm und einer Flasche mit klarer Flüssigkeit über dem Kopf hängend. Er sah aus, als habe er zehn Kilo abgenommen. Die Haut im Gesicht war gelblich und feucht, und in seinen Augen lag eine merkwürdige Mattheit, die vorher nicht da gewesen war. Die eine Hälfte des Gesichts trug blaurote Male von den starken Prellungen, und er war an allen Ecken und Enden verpflastert und bandagiert. Er lag auf dem Rücken und starrte leer in die Luft. Beide Beine lagen im Streckverband, der Arm war um das Handgelenk herum eingegipst, und die linke Hand lag mit gespreizten Fingern da wie eine tote Krabbe.
Ich trat langsam in sein Gesichtsfeld, um ihn nicht zu erschrecken. Er sah mich an, ohne zu reagieren.
Das hier war nicht der große, kräftige Mann, den ich kennengelernt hatte, der mit der Zeitung auf den Tisch schlug, um zu unterstreichen, was er sagte und sich wie ein Unwetter erhob, wenn er fertig war. Das hier war ein fremder Vetter vom Land, ein bleicher Verwandter, ein Schatten an einem bewölkten Tag.
»Hallo, Hjalmar«, sagte ich, so leicht ich konnte.
Hjalmar Nymark sah mich an, öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Der Mann im Nachbarbett kicherte albern. Ich sah ihn an. Er hatte zwei Meter dicke Brillengläser, einen Mund
ohne Zähne und lag vom Nacken bis zur Taille in Gips. Aber er lachte sicher nicht über mich. Vielleicht freute er sich einfach des Lebens, trotz allem. Es gibt solche Menschen, beruhigenderweise. Sie werden im Himmel auf einem Orchesterplatz sitzen, während man all uns anderen einen Stehplatz auf dem Balkon zuweist.
»Erkennst du mich nicht wieder?« fragte ich umständlich. Er nickte langsam. »V- V- V..«, sagte er.
»Ich habe dir …« Es wirkte so sinnlos, dazustehen, in der
Hand die kleinen, wohlduftenden Maiglöckchen, so voller neuen, saftigen Lebens, mit dunkelgrünen, starken Blättern und winzigen, gelbgrünen Staubgefäßen, die ihren Blütenstaub vergeblich auf einen Boden verstreuen würden, der jeden Morgen mit Reinigungsmittel gewischt wurde. Es wirkte wie eine Beleidigung, diesem schlaffen Mund die kleine Tüte mit den prallen Trauben anzubieten. Das Buch legte ich nur einfach auf den Nachttisch, ohne es zu kommentieren.
Ich setzte mich auf den Stuhl, der am Bett stand, und er folgte mir mit dem Blick. Tief drinnen in den Augen war irgendetwas Wachsames, Lebendiges, aber es war weit bis dorthin, und du brauchtest eine starke Leuchte, um hinzufinden.
An diesem Abend war er nicht in der Lage zu sprechen, aber am Tag darauf begrüßte er mich mit der Andeutung eines Lächelns und wieder einen Tag später schaffte er es, meinen gesamten Namen zu sagen.
Nach einer Woche konnten wir eine vorsichtige Unterhaltung führen, aber sobald ich versuchte, sie darauf zu lenken, worüber er vor dem Unfall gesprochen hatte, verschloß sich sein Gesicht und sein Blick sperrte mich aus. Ich versuchte es noch einmal und plötzlich – in einem schnellen und unerwarteten Augenblick
– war es, als erwache ein Zipfel des alten Hjalmar Nymark in ihm wieder zum Leben. Er ballte die linke Hand so kräftig, daß die Knöchel weiß wurden und aus seinen dunklen Augen sprühten Funken. »Vergiß es, Veum!« bellte er. »Da gibt’s nichts mehr zu reden! Verstehst du? Laß tote Wölfe liegen, verstehst du?« Die Augen wirkten fast jung, so dunkel und verletzlich, wie die eines verschmähten Liebhabers. »Verstehst du?«
Der Mann im Nachbarbett lachte schallend über eine vergnügliche Szene des Stummfilms, den er ständig auf der Innenseite seiner Brillengläser sah und ich griff Hjalmar Nymarks Hand und preßte sie fest in meine, während ich nickte. Ich verstand und ich tat, als würde ich vergessen.
Später sprachen wir nie mehr davon und in Hjalmar Nymark schien eine Stagnation einzutreten. Er wurde einerseits gesünder und doch auch andererseits wieder nicht. Im Krankenhaus sagten sie, er mache fabelhafte Fortschritte, nur ich bemerkte keine großen Veränderungen.
So verging der Juni, wie nasse Fußspuren auf frischem Asphalt. Die Tage verdampften schnell und der Juli setzte ein, wie gewöhnlich.
Der Juli war grau und regnerisch in diesem Jahr. Ich verbrachte fünf Wochen auf Sotra, in der Hütte eines entfernten Verwandten, der froh war, daß jemand nach seiner Hütte sah, während er selbst seine Ferien in sehr viel sonnigeren Gefilden verbrachte. Ich hatte Hjalmar Nymark von meinen Planen erzählt, bevor ich zusagte, für den Fall, daß er
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