Im Fadenkreuz der Angst
Treppe hinter der Tür muss zu einem Flur führen, von dem aus Wohnungen und Geschäftsräume abgehen. Neben jeder Klingel steht ein Name – nur bei Nummer vier ist der Name weggekratzt. Ist wohl klar, wessen Wohnung das ist und warum der Name da nicht mehr steht.
Ich wende mich ab und spaziere die Straße entlang, dann gehe ich auf die andere Seite und kehre zur Bücherei zurück. Die Jungs sitzen an einem Tisch bei den Jugendbüchern. Marty blättert durch einen Comic. Andy trommelt auf seine Knie. Ich erzähle ihnen, was ich gesehen habe.
»Und, was machen wir jetzt?«, fragt Marty. Zum allerersten Mal guckt er bei dieser Frage mich an und nicht Andy. Und auch Andy starrt mich an. Das machtmich etwas nervös. Vor allem, als mir klar wird, was für unglaubliche Idioten wir waren.
»Also, die Sache ist die«, sage ich. »Hasans Freundin oder Verwandte ist in Apartment Nummer vier. Aber die Wohnung wird wahrscheinlich überwacht. Also ist unser erstes Problem: Wenn ich ihr sage, was ich will – dass ich Sabiris Sohn bin und Tariq was geben will – stecke ich richtig in der Scheiße. Denn natürlich werden die, die sie beobachten, mich auch für einen Terroristen halten. Oder?«
Andy runzelt die Stirn. »Und das zweite Problem?«
»Das zweite Problem: Selbst wenn ich einfach nur auf die Klingel drücke, haben die mich auf dem Schirm. Wer immer die Wohnung beobachtet, weiß dann, dass ich dort jemanden besuchen will. Bingo. Und sie werden mich wie wild fotografieren. Warum das riskieren? So wie die Frau am Telefon drauf war, wird die mich nur reinlassen, wenn ich ihr sage, was ich will. Was ich eben nicht kann – womit wir wieder beim ersten Problem sind.«
»Also sollten wir uns vor die Tür setzen, warten, bis sie rauskommt, und ihr dann hinterhergehen«, sagt Andy.
Ich schüttele den Kopf. »Das ist das dritte und das vierte Problem. Das dritte: Sie wird bestimmt beschattet. Wenn wir ihr folgen, folgen die uns. Das vierte: Im Haus sind sechs Wohnungen und wir wissen nicht, wie die Frau aussieht. Wenn eine Frau aus dem Haus kommt, woher sollen wir wissen, dass sie es ist? Wem sollen wir folgen? Wenn wir ihr folgen könnten, was eben nicht geht.«
Furchtbare Stille. Eine Fliege landet auf dem Tisch, reibt sich die Flügel. Martys Magen grummelt.
»Wollen wir uns wieder ins Auto setzen?«, sagt er. »Die Pizza aufessen?«
»Wie kannst du jetzt an Essen denken«, faucht Andy.
»Tut mir leid, ich habe bloß gedacht …«
Ich schlage mir mit der Hand an die Stirn. »Die Pizza! Marty, du bist ein Genie!«
»Ich? Hä?«
Ich beuge mich über den Tisch. »Ich hab eine Idee.«
30
Eins nach dem anderen.
Ich schreibe eine Nachricht für Hasans Freundin und stecke den Zettel ein. Ich tausche meinen Hoodie gegen den von Marty. Ist mir ein bisschen groß, aber so sehe ich anders aus, für den Fall, dass ich schon fotografiert wurde. Ich lasse die Jungs in der Bücherei sitzen, gehe zum Auto und hole die Pizzaschachtel.
Ich bin bereit.
Nein, bin ich nicht. Ich meine, was mache ich hier eigentlich? Ich klingele mit einer Pizzaschachtel in der Hand bei einem Terroristen. Das kann alles nur ein Albtraum sein. Meine Füße bewegen sich von alleine. Ich kann sie nicht stoppen. Manche Sachen sehen so harmlos aus und dann wird plötzlich ein Riesending draus – wie unser Ausflug auf die Einsiedlerinsel zumBeispiel. Oder sie kippen total – wie die Sache mit Mr Bernstein auf dem Klo. Oder wie das hier jetzt. Werde ich sterben? Warum kann man nicht schon vorher wissen, wie eine Sache ausgehen wird?
Ich stehe vor der blauen Tür.
Ich klingele bei Nummer fünf, damit niemand mitkriegt, wo ich eigentlich hinwill, und hoffe, dass mich jemand reinlässt. Ich warte.
Am liebsten würde ich wegrennen, aber es ist, als wäre ich im Sog einer Welle, die mich mitreißen wird. Ich kann nichts mehr machen.
Ich klingele noch mal.
Atmen. Ich tue nichts Verbotenes. Ich liefere bloß eine Pizza. Es ist doch gut, wenn ich Dad entlasten kann, oder? Oder wenn ich Hasan finde und das der Polizei melden kann? Und für den Fall, dass was schiefläuft, sind immer noch Andy und Marty mit ihren Handys auf der anderen Straßenseite. Alles ist gut. Mir kann nichts passieren. Kein Problem.
Aber wenn es kein Problem gibt, warum schwitzen dann meine Füße? Sei kein Feigling.
Letzter Versuch bei Nummer fünf. Niemand reagiert.
Ich versuche Klingel Nummer eins. Nichts.
Klingel zwei. Es muss doch außer Hasans Freundin jemand zu Hause
Weitere Kostenlose Bücher