Im Feuer der Nacht
nur einen Angriff melden. Sein Vorgesetzter– Ming LeBon– würde wahrscheinlich Shine dahinter vermuten. Der Gedanke an Ming brachte Clays Blut in Wallung. Der Ratsherr würde die schlimmen Geschehnisse im Labor nicht weiter verfolgen, wenn er den Mann tötete, der dafür verantwortlich war.
Der Mediale wurde langsamer. Als er in einer dunklen Gasse stehen blieb und sich schwer atmend vornüberbeugte, bekam Clay eine Meldung über den Kopfhörer. Es war Lucas. „Wir haben sie– haben ihr die Augen verbunden. Sie kann uns nicht identifizieren, will sie auch gar nicht. Sagt, sie sei eine von Ashaya Aleines Leuten, Jons Beschreibung der Blonden passt auf sie. Sie hat bestätigt, dass der Mann, den du verfolgst, Larsen Brandell heißt und der Kopf ist, der hinter den Experimenten steckt. Erreicht eine Sieben auf der Skala.“
Jemand mit diesen Kräften würde genügend Energie aufbringen können, um durch einen einzigen Gedanken seinen Gegner sofort zu töten. Deshalb griff Clay ohne Vorwarnung an. Er fuhr die Krallen aus und schnitt dem Mann die Kehle durch.
Dunkel schoss das Blut aus der Wunde auf den Gehweg und die Häuserwand hinter dem Medialen. Dann hörte man einen gurgelnden Laut. Larsen war tot, bevor sein Körper auf dem Boden auftraf.
Es war eine Hinrichtung. Clay fühlte weder Schuld noch Reue– machte ihn das zu einer Bestie? Vielleicht. Aber als ihm der Geruch von Blut scharf und metallisch in die Nase stieg, fragte er sich, ob man nicht eine Bestie werden musste, um eine Bestie zu töten.
43
Schweißgebadet und nur mit einer locker sitzenden schwarzen Hose bekleidet, trat Ratsherr Kaleb Krychek an das Geländer seines Balkons und sah in den Abgrund vor sich hinunter. Aber er nahm die bedrohliche Tiefe gar nicht wahr, so sehr beschäftigte ihn das Problem mit Shoshanna und Henry Scott. Nikita, Tatiana und Ming waren auch gefährlich, aber die Scotts stellten ein besonderes Problem dar, weil sie als Einheit fungierten. Keiner von ihnen erreichte allein die Stärke eines Kardinalmedialen, aber zusammen waren sie eine äußerst effiziente Kombination.
Seit Marshall nicht mehr bei ihnen war, versuchte Shoshanna den Rat zu beherrschen. Kaleb hatte das erste Scharmützel gewonnen, gab sich aber nicht der Illusion hin, dass dies ein leichter Kampf werden würde. Er sah auf das Zeichen auf seinem Unterarm; das unverwechselbare Mal hatte sein Leben unwiderruflich verändert. Es war eine stete Erinnerung daran, was er war und wozu er bereit war.
Etwas klopfte in seinem Verstand an, ölige Dunkelheit, die Trost suchte. Der sprachlose Zwilling des Netkopfes, dieses vollkommen neuen Wesens, das Ordnung im Medialnet schaffte. Der Dunkle Kopf war im Vergleich dazu jedoch das reine Chaos. Nur ganz wenige wussten überhaupt etwas von seiner Existenz. Und nur ein Einziger konnte ihn zumindest ein klein wenig beeinflussen.
Als telekinetischer Kardinalmedialer besaß Kaleb sowohl zu dem Netkopf als auch zu dessen dunklem Schemen eine natürliche Verbindung. Jetzt streckte er in Gedanken seine Hand aus und berührte den Dunklen Kopf.
Schlaf, dachte er. Schlaf.
Der Dunkle Kopf war müde. Deshalb schlief er sofort ein. Kaleb wusste, dass eine Atempause im Moment das Beste war. Der Dunkle Kopf trug alle Gewalt und allen Schmerz in sich, allen Zorn und allen Wahnsinn, den die Medialen nicht mehr fühlen wollten. Er hatte keine Stimme, aber er drückte sich durch die Gewalttaten schwacher Individuen aus, die er manipulierte. Er war wie ein verlorenes Kind, aber gleichzeitig auch ein Ausdruck des absolut Bösen.
Im Alter von sieben hatte Kaleb das erste Mal mit diesem Wesen gesprochen.
In den nächsten Stunden würde der Dunkle Kopf jedenfalls keine Verwirrung stiften, zufrieden wandte sich Kaleb wieder seinem eigentlichen Problem zu. Wenn irgendeiner von den beiden Scotts herausfand, was das Mal auf seinem Arm in Wahrheit bedeutete, gab ihnen das die notwendige Munition, um seine sorgfältig geplante Machtübernahme im Rat zu sabotieren. Das durfte nicht geschehen.
Kaleb sah auf seine Uhr. In Moskau schien die Sonne, aber in San Francisco war es erst drei Uhr früh. Doch dieses Gespräch konnte nicht mehr warten. Er holte ein abhörsicheres Telefon aus dem Zimmer und gab eine Nummer ein. „Stellen Sie mich zu Anthony Kyriakus vom NightStar-Clan durch.“
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„Erzähl schon“, forderte Talin ein paar Stunden später Clay auf.
Eine Stunde vor Sonnenaufgang war er zurückgekehrt, nachdem er mit den
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