Im Feuer der Nacht
»Hier, sehen Sie? Junge oder Mädchen?«
»Junge. Ein Fall für Sie.« Er warf die Papiere auf den Stapel vor ihr und griff nach den nächsten.
»Ich prüfe das Alter und die Anschrift.« Sie schlug die Akte wieder auf. »East End oder nicht.« Stirnrunzelnd schaute sie auf. »Ist es denkbar, dass sie ihren Zugriff auf die Gegenden außerhalb des East Ends ausdehnen?«
»Möglicherweise«, Barnaby ließ die zweite Akte neben sich auf den Fußboden fallen, »allerdings nur, wenn sie auf ihrem eigenen Terrain keinen passenden Jungen mehr finden.« Er griff nach der nächsten Akte. »Verbrecher neigen dazu, sich in einer vertrauten Gegend zu tummeln. In einem Territorium, das sie aus bestimmten Gründen zu dem Bezirk ihrer schändlichen Zwecke erklärt haben.«
Sie nickte, prüfte die Anschrift auf der Akte in ihrer Hand -Paddington -, schloss sie und ließ sie neben ihrem Stuhl zu Boden fallen, während Barnaby ihr schon die nächste zuschob.
Schweigend fügten Barnaby und Penelope sich in einen Rhythmus, während um sie herum im Haus langsam Stille einkehrte. Bei ihrer Ankunft waren die älteren Kinder noch ebenso auf den Beinen gewesen wie die Angestellten, die die Aufsicht geführt und die jüngeren ins Bett gesteckt hatten. Es war, als hätten die Geräusche einer lebhaften Familie, dutzendfach vervielfältigt, ihr Echo durch die Korridore geschickt. Die tickende Uhr oben auf dem Schrank zeigte unerbittlich, wie die Zeit verrann; nach und nach waren sämtliche Geräusche erstorben. Nur noch das Papier raschelte trocken, und die hin und wieder zu Boden klatschenden Akten durchbrachen die sich ausbreitende Stille.
Penelope schaute auf, als die Uhr zur halben Stunde schlug, und bemerkte, dass es schon nach halb zwölf war. Seufzend warf sie die letzte aussortierte Akte auf den Stapel und betrachtete, genau wie Barnaby, den verbleibenden Stapel auf dem Tisch.
Mit der Hand fuhr sie über den Rücken der Akten. »Fünfzehn.« Fünfzehn Jungen aus dem East End zwischen sieben und elf Jahren, die als mögliche Waisenkinder registriert waren.
Barnaby ließ den Blick über den aussortierten Stapel Papiere schweifen. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele potenzielle Waisen gibt.« Er schaute sie an. »Sie können nicht alle aufnehmen.«
Penelope schüttelte den Kopf. »Wir würden gern, aber wir können es tatsächlich nicht. Wir müssen auswählen.« Nach einem kurzen Schweigen fügte sie hinzu: »Wie der Zufall es will, stützen wir unsere Auswahl auf einige der Charakterzüge, auf die auch diese Verbrecher es abgesehen haben - ein flinker Geist, vorzugsweise in einem flinken Körper. Auf die Größe achten wir nicht. Aber weil wir wissen, dass wir auswählen müssen, haben wir vor langer Zeit beschlossen, dass wir solche Kinder zu uns nehmen, die von unserem Angebot am meisten profitieren können.«
»Und das bedeutet, sie müssen einen schnellen Verstand haben sowie einigermaßen gesund sein.« Barnaby schnappte sich die oberste der fünfzehn Akten. »Wir sollten jetzt versuchen, Hinweise auf den Gesundheitszustand des Vormunds zu finden.«
Selbst bei nur fünfzehn Akten dauerte es seine Zeit, denn sie mussten nicht nur das Geschriebene lesen, sondern in mancher Hinsicht auch zwischen den Zeilen.
Am Ende war der Stapel auf drei Akten reduziert. Bei drei Jungen waren sie übereingekommen, dass sie die einzigen wahrscheinlichen Zielscheiben in all den Papieren darstellten, die sie mühsam durchgesehen hatten.
Penelope verschränkte die Hände auf dem Tisch und betrachtete die drei Akten. »Ich mache mir nach wie vor Sorgen, dass es noch weitere geben könnte. Jungen, die wir nicht registriert haben.« Sie musterte Barnabys Miene. »Was, wenn die Verbrecher sich einem von ihnen an die Fersen heften und diese hier«, sie deutete auf den kleinen Stapel, »außen vor lassen?«
Er verzog das Gesicht. »Das Risiko müssen wir eingehen. Aber bis jetzt hat das Haus schon fünf registrierte Kandidaten verloren. Es ist also wahrscheinlich, dass diese Jungen bereits ebenso ins Visier der Verbrecher geraten sind. Oder noch werden.« Er hielt kurz inne. »Das müssen wir annehmen und uns weiter an unseren Plan halten. Es gibt keinerlei Sicherheiten. Aber es ist das Beste, was wir tun können.«
Aufmerksam musterte Penelope seinen Blick, so als wollte sie seine Aufrichtigkeit an ihm ablesen, und nickte. »Sie haben recht.« Seufzend ließ sie den Blick über die Akten schweifen. »Leider findet sich in den Akten kein
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