Im finsteren Wald
bluten. Sie war älter als Rothaar, aber jünger als Erste, Zweite oder Großbrust. Ihr Knochenbau war stark, mächtige Arme und Beine gaben ihr ein beinahe männliches Aussehen, die Hände, groß und lang, verhalfen ihr zum Namen. Rothaar tippte sie an, zeigte auf das Neugeborene und sagte: „Ich auch will.“
Langhand reagierte nicht und Rothaar versuchte es ein zweites Mal. „Mir geben.“
Sie stieß Langhand an, doch diese war in das Kratzen vertieft und beachtete Rothaar nicht. Rothaar starrte sie an, das verfilzte, schmutzige Haar und die vielen Pickel und offenen Stellen im Gesicht der Frau schreckten sie ab. Sie unternahm keinen weiteren Versuch, mit Langhand zu sprechen oder von ihr Wärme zu bekommen. Sie fühlte sich wieder allein und einsam. Nach einem bedauernden Blick auf das Baby versuchte sie, sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Langsam räumte sie ein Wenig in der Höhle auf, sie mochte den Schmutz, die Unordnung und den Gestank, den man nur bemerkte, wenn man von der frischen Luft draußen hereinkam, nicht.
Nach der Arbeit nervte die Gefangene sie auf einmal gewaltig mit ihrem Gezeter und dem Winden und Herumrollen. Als jedoch aus Zurufen, still zu sein und aus Klapsen der Anderen schnell Schläge und Tritte wurden und ihre Gefährtinnen begannen, wie toll auf die Frau einzuschlagen, stieß die brutale Gewalt Rothaar ab. Mit Entsetzen sah sie das Nasenbein brechen und Blut fließen. Ein wenig Quälerei, ein schneller Tod danach, das war in Ordnung, doch die Gewalt, die sie nun sehen musste, gefiel ihr nicht. So hatte sie die Frauen noch niemals zuvor erlebt. Einmal mehr wurde sie in dem Gefühl bestärkt, nicht wirklich zu der Gruppe zu gehören, kein richtiger Bestandteil der Gemeinschaft zu sein. Sie hatte immer den Erzählungen über die Welt da draußen, und wie böse sie war, misstraut und es selbst mit eigenen Augen sehen, es selbst erleben wollen. Nun geschahen in ihrer kleinen Welt drinnen in der Höhle auch schlimme Dinge. War die Welt wirklich nur da draußen böse?
25
1784
Hartmut, Sieglind und ihre Gefährten waren schon lange tot, selbst ihre Kinder hatten längst das Zeitliche gesegnet. In den Höhlen lebten jetzt die Kinder der Kindeskinder, als ein oder vielmehr zwei globale Ereignisse das Fortbestehen der ‚Höhlenmenschen‘ bedrohte.
Es hatte bereits einige extrem kalte Winter in diesem Jahrhundert gegeben. Doch als 1783 die Vulkane Asama in Japan und Laki auf Island ausbrachen und riesige Staubwolken in die Atmosphäre wirbelten, führten das zu verminderter Sonneneinstrahlung auf die Erdoberfläche und somit zu einem weiteren Extremwinter. Die Temperaturen sanken auf neue Rekordwerte, Bäche, Flüsse und selbst große Seen froren bis zum Grund und verwandelten sich in hartes Eis. Starken Schneefällen kamen hinzu und weltweit kam es zu hunderttausenden Kälteopfern. Neben den unmittelbaren Opfern gab es noch einmal sehr viele weitere durch große Hungersnöte, da bei der froststarren Kälte und der Dämmerung die Pflanzen starben. Ernteausfälle verursachten eine Nahrungsmittelknappheit, die nur durch Fleisch und andere tierische Produkte nicht kompensiert werden konnte.
Der Winter dauerte im Jahre 1784 bis zum Juni an! Dann folgte ein sehr kalter und kurzer Herbst und darauf der nächste Winter.
Auch der Höhlengemeinschaft setzte diese eisige Zeit stark zu, die Essensvorräte waren bereits im Mai aufgebraucht und noch immer bedeckte das Land ein teilweise meterhoher Schneeteppich. Selbst die normalerweise über das ganze Jahr konstante Temperatur im Höhleninnern sank um zwei Grad ab. An das Jagen von Wild oder das Sammeln von Früchten, Beeren oder essbaren Pflanzen war nicht zu denken. Die Not der kleinen Gemeinschaft wuchs täglich und ein Ende des Winters war nicht abzusehen. In dieser Zeit gebar eine der Frauen ein Kind, ein Mädchen. Vom Hunger geschwächt, mit Mangelerscheinungen gezeichnet, war sie nicht imstande, dem Kind die Brust zu geben. Sie hatte keine Milch und andere Nahrung nahm das Neugeborene nicht an. In ihrer Not versuchte die Mutter sogar, dem Kind statt Milch, die sie nicht besaß, Ihr eigenes Blut zu Trinken zu geben, indem sie sich eine Schnittwunde an der Schulter zufügte, in der Hoffnung, das Blut enthalte genügend Nährstoffe für das Neugeborene, um überleben zu können.
Aber der Säugling starb. Wenige Tage später starb auch die Mutter. Sie wurden in den Schnee gelegt, da eine Beerdigung durch den hohen Schnee und vor
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