Im Fischernetz (German Edition)
Wie gebannt starrte Alvar das Wesen an, das sich kraftvoll und elegant durch die Wogen pflügte und mit ihnen zu spielen schien. Der Fisch war da – und Sayain sah ihn nicht... oder vielleicht doch? Hatte er ihn gesehen und war deswegen an den Strand gegangen? Aber warum hatte er ihn dann nicht geweckt? Alvar schlüpfte in seine Hosen und rannte barfuß die Treppe hinunter, stürmte aus dem Turm.
» Silfri ? Sajenn ! Wo du bist ?«
Nur der Sturm antwortete ihm. In der Bucht schimmerte im zuckenden Licht der Blitze immer wieder der weiße Fisch auf, als wolle er ihn verspotten.
Verdammt.
Alvar rannte zurück zu ihrem Lagerplatz am Strand. Überall lagen Muschelschalen, sonst gab es keine Spuren. Regen und Flut hatten alles weggewaschen. Wenigstens sah er kein Segel, kein Boot. Aber das beruhigte ihn nicht im Geringsten. Mit einem frustrierten Aufstöhnen ließ er sich auf einen Felsen fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Regentropfen prasselten ihm kalt und schwer auf den Rücken, es störte ihn nicht. Was auch immer geschehen war, Sayain war fort – war er gegangen, geflohen? Hatte er Alvar nur dabei geholfen, in der Ruine heimisch zu werden, damit er sie ihm in dieser Sturmnacht geben konnte? War er wirklich gegangen, ohne eine Nachricht, ohne ein Abschiedswort? Hatte Alvar sich so sehr geirrt? War das keine Freundschaft gewesen, keine Zuneigung, die er zwischen sich und dem anderen gespürt hatte?
» Sayain !« Er sprang auf und schrie, die Hände zum Himmel erhoben. Wind. Regen. Donner. Und dann – Stille.
Alvar sank auf den Felsen zurück. Er war allein. Morgen würde er diesen Ort verlassen. Noch einmal vergrub er das Gesicht in den Händen.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter, nass und kalt.
»Du hast meinen Namen richtig ausgesprochen«, flüsterte eine wohlbekannte Stimme im Wind, »zum ersten Mal !«
Wie vom Blitz getroffen fuhr Alvar auf. Sayain stand hinter ihm, triefnass und splitternackt, das lange Haar klebte an seinem schimmernden Körper.
»Du...« Alvar packte ihn an den Schultern. »Was hast du gedacht? Einfach verschwunden! Warum? Nicht sagen, du Fisch gesehen. Ich auch. Aber als ich gesehen, du schon weg. Warum? Was soll das ?« Er schüttelte den anderen.
Sayain hob die Hände, legte sie sanft auf Alvars Brust. Er senkte den Kopf. »Lass mich los«, murmelte er, »ich sage es dir. Ich sage dir... alles .«
Alvar atmete tief. Langsam löste er seinen Griff. Auf Sayains Oberarmen waren deutlich die Abdrücke seiner Hände zu sehen.
»Das... « Er starrte Sayain an. » Silfri . Ich wollte nicht...«
Sayain nickte. »Ich weiß«, murmelte er, seine Worte verwehten im Wind. Auch er atmete tief, schien mit sich zu ringen. Dann trat er einen Schritt zurück.
Alvar sah ihn an. Wollte er weglaufen? Er streckte eine Hand aus, nahm Sayain am Arm, sanfter diesmal.
»Nicht weglaufen .«
»Ich laufe nicht weg. Ich muss dir etwas zeigen. Worte... reichen nicht. Ich muss dir zeigen, was ich bin, damit du verstehst. Und dann... reden wir. Komm mit zum Wasser .«
Durch den Regen folgte Alvar Sayain zum Strand. Hin und wieder zuckte noch ein Blitz über den dunklen Himmel, aber der Sturm flaute ab und der Donner war nur noch ein leises Grollen in der Ferne. Sayain ging so weit an den Strand hinunter, dass die Wellen an seinen Füßen leckten. Und noch weiter, bis ihm das Wasser an die Hüften reichte. Sein silbernes Haar schwamm auf den Wellen.
»Sieh«, sagte er. Dann tauchte er.
»Warte !« Alvar stolperte hinter ihm her, die Wellen rissen ihn von den Füßen. Strampelnd schlug er um sich, hustete und keuchte, als salziges Wasser in seinen Mund drang.
Und dann war da auf einmal etwas neben ihm, groß und geschmeidig, das ihn sanft wieder Richtung Land stupste, bis er wieder Boden unter den Füßen hatte. Der weiße Fisch hob seinen mächtigen Kopf aus den Fluten, so nah am Land war das Wasser kaum tief genug für ihn. Auf die Brustflossen gestützt schwebte das riesige Wesen im Meer und sah ihn an. Dann verschwamm die Gestalt des Fisches, schrumpfte, verschwand, und Sayain tauchte aus den Fluten wieder auf.
Der Wind schwieg. Es war still. Nur das leise Rauschen der Wellen am Strand war zu hören – und sein Herzschlag, der Alvar wie das ferne Donnergrollen in seinen Ohren dröhnte.
»Du...?«
Sayain senkte den Kopf und nickte.
»Ja«, flüsterte er, »ich. Jetzt weißt du es. Darum bin ich aus meinem Heimatort geflohen. Ich bin... ein Monster .«
Alvar wusste nicht, was er sagen sollte.
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