Im Funkloch
entstanden war und der Berghang gegenüber gesichert wurde, um nicht abzurutschen, und wir ließen es über uns ergehen.
Ich sah mich die ganze Zeit nach Lucas um, bemerkte aber nur Dennis, Marcel und Jan. Am liebsten hätte ich Augen im Hinterkopf gehabt, um sicherzugehen, dass nicht auf einmal von hinten ein Stein geflogen kam.
Als Passlewski fertig war, ging es direkten Weges zurück. Ich wartete, bis Dennis, Marcel und Jan an mir vorbeigingen. »Wo ist Lucas?«, fragte ich.
»Keine Ahnung«, meinte Marcel. »Der ist vorhin vorgerannt. Dachte, er wartet hier oben.«
»Wahrscheinlich sitzt er längst wieder im Bus«, murrte Dennis und zog seine Kapuze enger.
Der Busfahrer war eingeschlafen. Als Passlewski an die Scheibe klopfte, schreckte er hoch und öffnete die Tür. Lucas war also nicht im Bus. »Ich glaube, wir sollten es ihnen sagen«, raunte ich Tina zu.
»Da fehlt doch wer!«, rief Frau Herzig gerade. Sie streckte den Zeigefinger aus und zählte durch. Passlewski fing auch an zu zählen.
»Meine sind alle da«, sagte sie.
»Lucas . . .«, schnaubte Passlewski und schüttelte resignierend den Kopf. Dann schaute er sich um, als hoffte er, Lucas würde sich irgendwo in der Nähe verstecken. Er wirkte völlig ratlos.
»Alle in den Bus«, rief Frau Herzig. Wir befolgten den Befehl.
Passlewski und Frau Herzig standen vor dem Bus und unterhielten sich – nein, sie stritten.
Erst jetzt wurde mir bewusst, dass Tina sich ganz selbstverständlich neben mich gesetzt hatte. Ich hatte mich so lange vor der Klassenfahrt verrückt gemacht, wie ich mit ihr ins Gespräch kommen konnte, und nun liefen wir schon bald eine Stunde zusammen rum und quatschten wie alte Freunde.Ich muss ja zugeben, dass ein Teil von mir befürchtet hatte, sie würde sich doch als arrogante Zicke entpuppen. Aber sie war alles andere als das . . .
Schließlich schienen sich Frau Herzig und Passlewski zu einigen. Er ging wieder zurück in Richtung Teich, und sie kam zu uns in den Bus. Sie musste nur einen Augenblick warten, bis Ruhe herrschte, bevor sie sprach. »Wir fahren zurück. Herr Passlewski wird die Gegend absuchen, wir holen ihn später ab.«
Ehrlich gesagt war Lucas mir egal – ich war schon froh, wieder im Trockenen zu sein. Und ich konnte es kaum erwarten, eine andere Hose anzuziehen. Niemand von uns machte sich Sorgen – zumindest niemand aus unserer Klasse, da war ich mir sicher. Lucas war für seine Aktionen bekannt. Deswegen war auf der Rückfahrt auch gute Stimmung.
Herantasten
Der Winter verschwindet, und auch das Gefühl der Fremdheit wird mit jedem Tag an der neuen Schule kleiner. Nach und nach blicke ich durch, wer mit wem befreundet ist, wer wen hasst und wer wen respektiert. Es gibt ein paar Leute, mit denen ich in den Pausen abhänge, aber echte Freundschaften sind das nicht.
In der Klasse sitze ich weiter neben Lucas, aber er behandelt mich immer noch wie Luft. Irgendwie tickt der anders als alle anderen. Er kümmert sich nicht um Verweise oder blaue Briefe, wenn er mal wieder zu spät zum Unterricht kommt – oder zu früh geht. Bei Hausaufgaben erledigt er bestenfalls das absolute Minimum. Aber erstaunlicherweise schneidet er bei den Tests gar nicht schlecht ab, scheint also durchaus was auf dem Kasten zu haben.
Zuerst hab ich gedacht, Lucas kommt aus einer Asi-Familie. Vater schlägt, Mutter säuft oder so. Aber so ist das gar nicht. Außer dass seine Eltern geschieden sind und er bei der Mutter lebt, die ganztags in der Buchhaltung einer Bank arbeitet. Ganz normale Leute . . .
Aber Lucas ist alles andere als normal.
Sein Rebellengehabe ist eine Sache, aber schon in der ersten Woche hab ich gemerkt, dass das nicht nur leere Worte sind. Er schlägt zu, wenn ihm etwas nicht passt. Und klaut, wann immer sich die Gelegenheit bietet.
Was mich erstaunt: Als Frischling muss ich eigentlich die perfekte Zielscheibe für ihn sein. Aber er ignoriert mich. Und ich halte mich an das Motto, dass man schlafende Hunde nicht wecken soll, und ignoriere ihn auch.
Dann fangen seine Kumpels an, sich für mich zu interessieren. Sie rempeln mich an, schubsen mich, stellen mir immer wieder ein Bein. Bis es mir irgendwann zu blöd ist. Es ist Marcel, der mir im Flur grinsend entgegenkommt. Als er seine Schulter ausfährt, ducke ich mich weg, hinter ihn, und stoße zu. Er taumelt nach vorn, knallt auf den Boden. Ich gehe weiter, als wäre nichts gewesen, und versuche mir einzureden, dass mir nur vor Hunger schlecht
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