Im Hauch des Abendwindes
sagte sie nichts. Sie ging bis zur Hauptstraße, wo sie einen Moment innehielt. Statt zu Myras Haus zurückzukehren, beschloss sie, zum Fluss hinunterzuschlendern. Sie wollte eine Weile mit ihren Gedanken allein sein.
Ruby setzte sich unter einen Eukalyptusbaum und starrte dumpf vor sich hin. Das Wasser war fast vollständig abgeflossen und hatte eine dicke Schlammschicht hinterlassen.
»Du hast Jed gefunden«, sagte plötzlich eine Stimme neben ihr. Ruby fuhr zusammen. Langsam sollte sie sich daran gewöhnen, dass Girra scheinbar aus dem Nichts auf einmal neben ihr auftauchte.
»Ja, ich hab ihn gefunden.« Sie seufzte bedrückt.
»Warum bist du dann traurig?«, fragte das Mädchen und setzte sich neben sie.
Ruby erzählte ihr, was sich zugetragen hatte. »Tja, und jetzt kann Jed das Pferd nicht mehr trainieren, weil er sich schonen muss«, schloss sie.
»Es wird meistens von Kadee geritten«, sagte Girra, die ihr aufmerksam zugehört hatte.
»Kadee? Wer ist das?«
»Jeds Jockey.« Girra sah Ruby an. »Der Flussschlamm kann Jed gesund machen.«
Ruby war verwirrt. »Der Flussschlamm?«
»Ja, er besitzt Heilkraft.«
Ruby wusste nicht, was sie davon halten sollte. »Wie kann der Schlamm ihn gesund machen?«
»Ich weiß es nicht, aber es ist so. Das ist Medizin meines Volkes. Mein Onkel wurde von einem Känguru angegriffen und übel verletzt, und der Schlamm hat ihn geheilt.«
»Wirklich?« Ein Hoffnungsfunke glomm in Ruby auf.
Girra nickte.
»Was muss Jed machen? Kannst du es ihm zeigen?«
»Meine Mutter kann es und einige der Stammesältesten. Jed wird sich jedoch weigern. Die Weißen haben kein Vertrauen in die Medizin meines Volkes.«
»Aber wenn es hilft …«
Wieder nickte Girra. »Unsere Medizin ist alt, uralt, sie hilft seit langer, langer Zeit den Menschen.«
Ruby wusste, dass es keine Ärzte gegeben hatte, bevor die Weißen sich in Australien niederließen, trotzdem hatte die Urbevölkerung Krankheiten und Unfälle überlebt. »Ich werde Jed davon erzählen, Girra.« Sie sprang auf. »Ich werde ihn überreden, es auszuprobieren.«
Girra sah sie skeptisch an.
Am liebsten wäre Ruby sofort zu Jed geeilt, doch dann sagte sie sich, dass es besser war, zu warten, bis er sich ausgeruht und einen klaren Kopf hatte. Und sie selbst war hungrig, durstig und völlig erschöpft. Viel zu erschöpft für eine zermürbende Auseinandersetzung mit einem störrischen Mann.
15
Am Montagmorgen stand Ruby früh auf. Sie ging jedoch nicht gleich in ihren Laden, sondern zum Hotel. Es war noch nicht einmal sieben Uhr, aber Mick war schon bei Flake. Er hatte sie bereits gefüttert und füllte gerade ihren Eimer mit frischem Wasser, als Ruby in die offene Tür trat.
»Guten Morgen, Mick!«
Er fuhr so heftig zusammen, dass das Wasser aus dem Eimer schwappte. »Herrgott, Ruby, hast du mich vielleicht erschreckt!« Eine Hand an die Brust gepresst, drehte er sich zu ihr um. »Ich hätte fast ’nen Herzschlag bekommen!«
»Entschuldige, das wollte ich nicht.« Sie konnte seinem übermüdeten Gesicht ansehen, dass er kaum geschlafen hatte. »Ich wollte nur sehen, wie’s Flake geht.«
Mick seufzte. »Im Gegensatz zu Jed geht es ihr schon wieder recht ordentlich.«
»Macht der Patient dir das Leben schwer?« Ruby strich über Flakes samtige Nüstern.
»Allerdings. Ich kann ihn ja verstehen. Er hat Schmerzen, er kann Flake nicht trainieren, und Geduld hat er auch keine.«
»Ich wüsste da vielleicht etwas, das ihm hilft.«
»Ach ja?« Mick hatte das alte Stroh inzwischen zusammengeharkt, jetzt verteilte er frisches auf dem Boden.
»Die Aborigines kennen ein Heilmittel, das man bei Rippenprellungen anwendet. Es soll wahre Wunder wirken, hab ich mir sagen lassen.«
»Ich bezweifle, dass Jed etwas davon wissen will. Er würde lieber eine Flasche Whiskey leeren, um die Schmerzen zu betäuben.«
»Also ich finde, es wäre einen Versuch wert.«
Mick zuckte mit den Schultern. Im Gegensatz zu manchen anderen im Ort hatte Jed zwar großen Respekt vor den Ureinwohnern, dennoch würde es vermutlich nicht einmal einer so zielstrebigen jungen Frau wie Ruby gelingen, ihn zu einer unkonventionellen Behandlung zu überreden.
»Hat er schon gefrühstückt?«, fragte sie.
»Nein, er wollte, dass ich zuerst das Pferd versorge.«
»Schön, dann werde ich ihm etwas machen.«
Ruby ging in die kleine Küche hinter der Bar, kochte Kaffee und toastete Brot, dann brachte sie Jed beides ans Bett. Er nahm das Frühstück
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