Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
starken Befestigungen, welche die Runde Stadt umgaben, aber ihm erschien die räumliche Nähe zu einer großen Zahl loyaler Soldaten beruhigender als die Enge des Palastkomplexes, den er allerdings zu Verwaltungszwecken weiterhin nutzte. Im Jahr 774 zog al-Mansur in sein neues Heim, den sagenumwobenen Qasr al-Khuld am Tigrisufer. Den genauen Ort hatte man ausgewählt, weil er ein wenig höher lag als die Umgebung und deshalb in Sommernächten relativ frei von Mücken war. Al-Khuld – das Wort bedeutet »Ewigkeit« – erhielt seinen Namen, weil die Palastgärten angeblich so schön waren, dass sie dem im Koran beschriebenen Himmel ähnelten. Später wurde der Palast als Schauplatz der prachtvollen, aufwendigen Hochzeitsfeier von al-Rashid und Zubaya berühmt.
Das kulturelle Klima in der neuen Hauptstadt unterschied sich stark von dem, was die einheimische, bäuerliche Bevölkerung kannte, und war auch anders als alles, was es zuvor gegeben hatte. Es brachte eine multikulturelle Gesellschaft aus muslimischen und christlichen Arabern, bekehrten Muslimen aus anderen Gruppen der einheimischen Bevölkerung, Juden, Sabianer, Zoroastrier und Heiden zusammen. Die allgemein übliche Lebensweise unterschied sich nicht allzu stark von der im persischen Reich, das in der Region vor der Eroberung durch die Muslime mehrere Jahrhunderte geherrscht hatte. Die neue Mischung aus Religionen und Kulturen, die sich gegenseitig tolerierten, ergab aber eine faszinierend farbige Gesellschaft.
Obwohl die Abassiden nur mit Mühe ihre Macht festigen konnten und Bündnisse mit den Persern eingehen mussten, die ihnen beim Sieg über die Umayyaden zur Seite gestanden hatten, war das erste Jahrhundert der Abassidenherrschaft eine Phase des großen Wohlstandes und beeindruckender Errungenschaften. Damit die notwendige Einheit der verschiedenen Menschen und Kulturen hergestellt werden konnte, musste ein neues islamisches Reich entstehen, aber die multikulturelle, multireligiöse Toleranz in diesem Reich begünstigte ein ehrliches Gefühl der Erwartung und des Optimismus, das in ein Goldenes Zeitalter der Aufklärung und des intellektuellen Fortschritts mündete.
Zu Beginn der Abassidenzeit legten die meisten Gelehrten das Schwergewicht ihrer Tätigkeit auf die Interpretation der Worte im Koran. Er war immerhin das allererste Buch, das in arabischer Sprache verfasst worden war. Grammatik, Syntax, Interpunktion und Kalligraphie mussten vereinheitlicht und verfeinert werden. Das wiederum begünstigte jedoch eine Neigung zur Gelehrsamkeit, die, nachdem sie einmal entstanden war, ein Eigenleben entwickelte. Deshalb kann man die arabische Wissenschaft nicht verstehen, ohne gleichzeitig in Betracht zu ziehen, in welchem Umfang der Islam das wissenschaftliche und philosophische Denken beeinflusste. Die arabische Wissenschaft war während des gesamten Goldenen Zeitalters untrennbar mit der Religion verbunden. Die wissenschaftliche Revolution der Abassidenzeit hätte ganz eindeutig nicht stattfinden können, hätte es nicht den Islam gegeben; dies ist ein deutlicher Unterschied zur Ausbreitung des Christentums in den vorangegangenen Jahrhunderten, die nicht annähernd im gleichen Umfang das originäre wissenschaftliche Denken angeregt und gefördert hatte.
Andererseits reichte die Ausbreitung des Islam allein nicht aus, um funkengleich die wissenschaftlichen Neugier zu entzünden. Nichts spricht dafür, dass es während der vorausgegangenen Umayyadenherrschaft auch originelle wissenschaftliche Tätigkeit gegeben hätte, abgesehen vielleicht von den Bemühungen einzelner jüdischer und christlicher Gelehrter in der Region. Es handelte sich vielmehr um eine neue kulturelle Einstellung gegenüber der Gelehrsamkeit, welche die Abassiden von den Persern übernommen hatten, in Verbindung mit dem neuen Wohlstand und der Macht der Kalifen in dem wachsenden islamischen Großreich. Dies alles begünstigte ein neues Interesse an der akademischen Forschung, das seit der Glanzzeit des griechischen Alexandria verlorengegangen war. Das Zeitalter der arabischen Wissenschaft konnte aber erst anbrechen, nachdem aus anfänglich langsam beginnenden, separaten Aktivitäten eine Art übermächtige Entwicklung wurde. Sie trug sich vor allem in Bagdad zu und wurde als »Übersetzungsbewegung« bekannt.
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Übersetzung
Die griechisch-arabische Übersetzungsbewegung ist deshalb von so großer Bedeutung, weil sie zum ersten Mal in der Geschichte zeigte, dass wissenschaftliches
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