Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
islamische Rationalisten, beispielsweise die Philosophen al-Kindi und Ibn Sina, die Alchemie sogar ab, ganz ähnlich wie sie auch astrologische Überzeugungen zugunsten ernsthafter astronomischer Beobachtungen aufgaben. Für einige der zuletzt genannten islamischen Gelehrten stimmt das zwar, [37] im Falle von Jabir sind die Verhältnisse allerdings nicht so klar. Ich kann aber auch nicht erkennen, dass eine solche Haltung notwendig wäre, um Jabirs Leistungen in der Chemie zu legitimieren. War Aristoteles ein Dummkopf, nur weil er an die Theorie der vier Elemente glaubte? War Platon ein geringeres Genie, weil er an der Intromissionstheorie des Sehens festhielt (wonach wir Objekte sehen, weil unsere Augen Licht aussenden)? Und war schließlich auch Isaac Newton des Titels eines der größten Wissenschaftler aller Zeiten weniger würdig, weil er von Alchemie besessen war? Hinterher ist man immer klüger, aber wir sollten unsere modernen wissenschaftlichen Ideen und Werte nicht auf eine andere, längst vergangene Zeit projizieren. Jabir ibn Hayyan als Alchemisten und nicht als Chemiker zu bezeichnen ist (wenn man unsere modernen Definitionen der beiden Begriffe zugrunde legt) ganz ähnlich, als würde man den großen Astronomen Ptolemäus aus Alexandria als Astrologen bezeichnen.
Betrachten wir einmal ein Beispiel: Jabir glaubte, alle Metalle bestünden aus Schwefel und Quecksilber in unterschiedlichen Anteilen. Dass diese Vorstellung falsch ist, weiß heute jedes Schulkind, aber Jabirs Motive, das Wesen der Materie zu studieren, und auch viele der von ihm perfektionierten experimentellen Methoden sind heute ebenso gültig wie zu seiner Zeit. Ganz ähnlich erging es auch Ptolemäus: Er glaubte an das geozentrische Modell des Universums, wonach Sterne und Planeten an Sphären befestigt sind, die um die im Mittelpunkt stehende Erde kreisen, eine Vorstellung, die heute völlig überholt ist. Dies mindert aber keineswegs Ptolemäus’ Platz in der Geschichte. Wissenschaft schreitet voran, und Jabirs bruchstückhafte Chemie entwickelte sich ebenso weiter wie Ptolemäus’ Astronomie.
Chemie und Alchemie waren also zu Jabirs Zeit keine getrennten Fachgebiete. Das eine entwickelte sich nicht zum anderen weiter, ja sie liefen noch nicht einmal parallel. Die Chemie beschäftigte sich teilweise mit dem Okkulten und Mystischen, teilweise aber auch mit praktischen Anwendungen in der Industrie, und teilweise war man auch ehrlich bemüht, die Substanzen auf Grundlage sorgfältig geplanter Experimente zu verstehen, in Kategorien einzuteilen und zu klassifizieren. Alle diese Richtungen sind in den frühen Arbeiten von Jabir ibn Hayyan vertreten. Der endgültige Wechsel vom Okkulten zur echten experimentellen Wissenschaft spielte sich erst einige Zeit nach Jabir ab, er war aber zweifellos der erste Wissenschaftler, der über die Theorien der Griechen hinausging, und für die wissenschaftliche Praxis leitete er eine Revolution ein. Er legte Wert auf sorgfältige Beobachtungen, kontrollierte Experimente und genaue Aufzeichnungen – im Gegensatz zu großen Teilen der griechischen Chemie, die sich entweder auf Hypothesen und metaphysische Vorstellungen stützte oder sich mit wissenschaftlich unfruchtbaren praktischen Anwendungen beschäftigte. [38]
In seinen Schriften behandelte Jabir ein breites Spektrum verschiedener Themen. Er interessierte sich nicht nur für Theorie und Praxis chemischer Prozesse und die Klassifikation der Substanzen, sondern auch für Pharmakologie, Medizin, Philosophie, Kosmologie, Logik, Musik und Zahlenlehre; damit waren seine Interessen eigentlich ganz ähnlich breit gefächert wie die vieler griechischer Philosophen tausend Jahre vor ihm. Ein großer Teil seiner Schriften ist religiösen Charakters, und seine alchemistischen Arbeiten sind häufig von Geheimnistuerei umgeben – sein Mentor und religiöser Führer Imam Ja’far hatte ihn gewarnt, sie sollten nicht in die Hände von Unwürdigen fallen. Viel später, als man seine Werke ins Lateinische übersetzt hatte, gelang es den europäischen Gelehrten, sie mit noch mehr Rätselhaftigkeit und Verwirrung zu umgeben. Historiker haben sogar die Frage gestellt, ob dieses ganze Labyrinth chemischer und alchemistischer Schriften (der sogenannte Corpus Gabirianum ) überhaupt in seiner Gesamtheit authentisch ist.
Noch schwerer als die Frage der Urheberschaft wiegt ein anderes Problem. Wie der französische Historiker Paul Kraus in den 1940er Jahren deutlich
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