Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Elemente studiert hatte oder nicht: Heute besteht Einigkeit, dass er sowohl von der griechischen Geometrie als auch von der hinduistischen Arithmetik beeinflusst wurde. Nur ein Experte war im 20. Jahrhundert anderer Meinung. Der österreichisch-amerikanische Mathematikhistoriker Solomon Gandz behauptete in einem 1936 erschienenen Aufsatz, al-Khwarizmis al-Jebr sei im Wesentlichen die Übersetzung eines althebräischen Buches über Geometrie, das den Titel Mishnat ha Middot trug und auf die Zeit um 150 u.Z. datiert wurde. [108] Nach Gandz’ Ansicht findet sich in al-Khwarizmis Werk keine Spur von Euklids Elementen und kein Anklang daran; er könne das Buch nicht gekannt haben, denn sein Text enthalte nichts von den Definitionen, Axiomen, Postulaten und Nachweisen, die ein so integraler Bestandteil von Euklids Schriften sind. Gandz geht sogar so weit zu behaupten, al-Khwarizmis Arbeit sei ein Aufbegehren gegen die griechische Mathematik gewesen. Viele Historiker sind jedoch anderer Ansicht und führen etwaige Ähnlichkeiten zwischen dem Kitab al-Jebr und dem Mishnat ha Middot darauf zurück, dass das Mishnat in Wirklichkeit erst nach al-Khwarizmis Zeit verfasst wurde. [109]
Wie dem auch sei: Die nicht-originellen Aspekte im al-Jebr sind nicht seine wichtigsten Merkmale. Insbesondere die geometrischen Diagramme, mit denen die Methode der »Vervollständigung von Quadraten« vorgeführt wird, waren schon seit babylonischer Zeit bekannt und dienten al-Khwarizmi nur als Mittel, um die Antworten zu untermauern, zu denen er auf algebraischen Wegen gelangt war.
Demnach muss ich auch klarstellen, was die beiden entscheidenden Wörter jebr und muqabala in seinem Titel bedeuten. Das erste heißt »Vervollständigung« oder »Wiederherstellung« – beispielsweise wenn gebrochene Knochen ruhiggestellt oder eingerichtet werden. Im mathematischen Zusammenhang bedeutet es, dass man eine negative Größe von einer Seite der Gleichung auf die andere verschiebt und so ihren positiven Wert »wiederherstellt«. Haben wir beispielsweise die Gleichung 5 x –2=8, so können wir die 2, die links von 5 x subtrahiert wird, auf die rechte Seite verschieben und zur 8 addieren: 5 x =8+2 oder 5 x = 10. Das zweite Wort, das arabische Substantiv muqabala , bezeichnet die Stellung von etwas, das sich gegenüber befindet oder das man vergleichen will. Im mathematischen Zusammenhang meint man damit, dass eine Gleichung ins Gleichgewicht gebracht wird oder dass man auf beiden Seiten die gleiche Aktion ausführt. Beispielsweise können wir in dem Ausdruck 3 x + 1 = y + 1 auf beiden Seiten 1 subtrahieren und so die Gleichung zu 3 x = y vereinfachen.
Diese beiden grundlegenden algebraischen Verfahren und mehrere andere, die al-Khwarizmi gleich zu Beginn seines Buches beschreibt, machen seine Absicht deutlich: Er wollte eine Anleitung für die Handhabung algebraischer Größen geben. Aber seine Motivation ging darüber noch hinaus. Am Anfang nennt er den Zweck des Buches: Es solle lehren, »was in der Arithmetik am einfachsten und nützlichsten ist, so dass die Menschen es in Fällen von Erbe, Vermächtnissen, Aufteilung, Gerichtsverfahren und Handel ständig benötigen, aber auch in ihrem Umgang untereinander oder bei der Vermessung von Ländereien, dem Graben von Kanälen, geometrischen Berechnungen und verschiedenartigen anderen Gegenständen«. [110] Das Buch gliedert sich in zwei Teile. Für uns ist der erste interessanter: Hier formuliert al-Khwarizmi die Regeln der Algebra und die Abfolge von Schritten (das heißt die Algorithmen), die man für die Lösung verschiedenartiger quadratischer Gleichungen braucht; dabei folgt dann jeweils in Form eines Diagramms ein Beweis für die Lösung. Die zweite Hälfte des Buches behandelt eine Fülle von Anwendungsmöglichkeiten für seine Methoden; hier beschreibt er wie in dem obengenannten Zitat eine Fülle von Alltagsaufgaben.
Er definiert dreierlei Größen: Unbekannte (die er shay’ nennt, das heißt »das Ding«), Quadrate der Unbekannten ( mal ) und Zahlen. Dann beschreibt er, wie man die Zusammenhänge zwischen Größen dieser drei Typen so manipulieren und umstellen kann, dass man den Wert des shay’ findet. Bemerkenswert ist vor allem, wie er diese Schritte und Methoden beschreibt. Sein Werk ähnelt keinem heutigen Algebrabuch. Statt die Seiten mit Symbolen und Formeln zu füllen, schrieb er ausschließlich Prosa. Das bedeutete natürlich, dass er zwei Seiten brauchte, um die Schritte zur
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