Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)

Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)

Titel: Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jim al-Khalili
Vom Netzwerk:
Berechnung einer Größe zu beschreiben, ein Vorgang, den man mit Gleichungen und Symbolen in wenigen Zeilen umreißen konnte.
    Nun gilt es verschiedene Dinge zu erwähnen: Die Hindus schrieben Gleichungen schon lange vor al-Khwarizmi und sogar vor Diophantus mit einfachen Symbolen; al-Khwarizmi löste in seinem al-Jebr nie Gleichungen, die über die quadratische Gleichung ( x 2 ) hinausgingen; Diophantus beschäftigte sich mit komplizierteren Fragen; und selbst die Methoden, die al-Khwarizmi benutzte, wie die »Vervollständigung der Quadrate« zur Lösung quadratischer Gleichungen, waren nicht neu. Angesichts aller dieser Tatsachen sind die Behauptungen, er sei der Vater der Algebra, sicher nicht aufrechtzuerhalten.
    Ich habe schon die Ansicht gehört, al-Khwarizmis Ruf sei nur dadurch begründet, dass er das Thema mit seinem Buch zum ersten Mal populär machte und in eine Form brachte, in der viele Menschen es nachvollziehen konnten. Aber das ist eine fadenscheinige Argumentation. Ebenso gut könnte man sagen, Stephen Hawking habe seinen Ruf als einer der größten Wissenschaftler unserer Zeit nicht seinen Pionierarbeiten in der Kosmologie und der Theorie der schwarzen Löcher zu verdanken, sondern nur seinem Bestseller Eine kurze Geschichte der Zeit .
    Um die Frage ein für alle Mal zu klären, unterhielt ich mich mit dem Mathematiker Ian Stewart, einem Bekannten, der an der University of Warwick tätig ist und sich schon seit langem für die Geschichte der Algebra interessiert. Nun verstand ich es endlich. Wie sich herausstellte, geht es in Wirklichkeit nicht darum, ob Symbole benutzt werden, ob geometrische Beweise geführt werden, wie komplex die Gleichungen und wie verständlich seine Schriften sind. Was al-Khwarizmi zum ersten Mal tat und was ihn von allen anderen Mathematikern vor ihm unterscheidet, ist etwas Subtiles, aber Entscheidendes: Er gab die Praxis auf, Einzelaufgaben zu lösen, und formulierte stattdessen allgemeine Prinzipien und Regeln zur Behandlung und Lösung quadratischer Gleichungen in einer Reihe von Einzelschritten – das heißt durch einen Algorithmus. Damit schuf er die Voraussetzung, dass die Algebra als eigenständiges Gebiet existieren konnte und nicht mehr nur eine Methode zur Handhabung von Zahlen war. Stewart formuliert es so:
Das ist der Unterschied: Auf der einen Seite werden viele Einzelbeispiele geliefert, und man überlässt dem Leser die Schlussfolgerung, dass man auf ähnliche Fälle die gleiche Methode anwenden kann; auf der anderen wird die Methode selbst in allgemeinen Begriffen erklärt. Wenn al-Khwarizmi »mal« sagt (was x 2 bedeutet), meint er damit nicht eine bestimmte Quadratzahl wie beispielsweise 16, sondern das Quadrat seiner Unbekannten, seiner shay , die keine bestimmte Zahl repräsentiert. Später verdeutlicht er seinen Gedankengang vielleicht anhand einzelner Zahlen, aber die Methode als solche denkt er sich als allgemeine Vorgehensweise aus.
    Obwohl al-Khwarizmi also im Gegensatz zu Diophantus keine Symbole, sondern Worte verwendete, steht er der Algebra, wie wir sie heute betreiben, viel näher als der Grieche: Für al-Khwarizmi ist die Unbekannte ( shay ’) ein neuartiges Objekt, das man eigenständig handhaben kann. Für ihn ist 2 x +3 x =5 x nicht nur eine Formel, die für bestimmte Werte von x stimmt, sondern eine Aussage darüber, wie man Vielfache der Unbekannten addiert. Die Unbekannte ist nicht mehr nur ein Platzhalter für Zahlen, sondern ein eigenständiges Gebilde. Hier liegt al-Khwarizmis wahre Bedeutung, und das ist echte Algebra.
    Diophantus interessierte sich letztlich mehr für die Theorie der Zahlen und die Beziehungen zwischen ihnen, während Euklids Interessenschwerpunkt bei der Geometrie lag; al-Khwarizmis Text dagegen lehrt die Algebra zum ersten Mal als eigenes, von Arithmetik und Geometrie getrenntes Fach.
    Nach wie vor herrschen häufig Vorbehalte, weil al-Khwarizmi keine Symbole, sondern Sprache verwendete, aber welche Bedeutung hat das eigentlich? Man kann ganz grob dreierlei Arten von Algebra unterscheiden. Erstens gibt es die rhetorische Algebra , wie man sie nennt: Hier gibt es keine Symbole, jeder Schritt wird nicht mit Gleichungen, sondern mit Worten beschrieben. Das war die Tradition, die al-Khwarizmi übernahm und zu einem System machte. Die zweite ist die synkopierte Algebra , die vorwiegend rhetorisch ist, aber auch einige besondere Schreibweisen und Abkürzungen umfasst. Dieser Form der Algebra bediente sich

Weitere Kostenlose Bücher